Nachdem der gemeine Fan die Feiertage irgendwie mehr oder weniger zufriedenstellend hinter sich gebracht hat, geht es schon weiter mit dem rollenden Ball. Der eine zieht sich jedes Hallenturnier rein, ein anderer fährt mit seinem Verein ins Trainingslager. Wenn die Zeit der Testspiele kommt, dann wird sich auch der letzte Kick auf Nebenplatz 4, der seine besten Tage schon hinter sich hat, angetan. Wiederum andere flüchten sich in die Hallensportarten. In Polen dauert die Winterpause der unteren Ligen länger als die Sommerpause. Folglich geht es da auch relativ spät los mit Testspielen. Fanturniere sind da sehr beliebte und gemütliche Lückenfüller. Hallenturniere gibt es auch, aber in erster Linie geht es da nicht wie bei uns um irgendwelche von Firma xy gestifteten Pokale, sondern um verstorbene Vereinsmitglieder, derer gedacht wird. Kommerzielle Hallenturniere konnten sich bisher noch nicht durchsetzen.
Harte fußballlose Winterzeit: Pilgerfahrt der polnischen Fans nach Czestochowa
Der Remes-Cup in Poznan verlor erst seine Bedeutung, wurde darüber hinaus von den deutschen Medien noch zu Unrecht torpediert und verabschiedete sich dann leise von der Bildfläche. Was macht also der polnische Schlachtenbummler am ersten Januar-Wochenende? Er fährt nach Czestochowa (Tschenstochau). Dort findet in diesem Jahr zum sechsten Mal die Pilgerfahrt der Fans statt. Das ist eine Veranstaltung, die mit keiner anderen in Europa vergleichbar sein soll.
Um das herauszufinden, begab sich turus.net auch nach Czestochowa. In weiser Voraussicht wurde sich schon früh um ein Zugticket gekümmert, was sich dann im Nachhinein auch als goldrichtig herausstellte, da der D-Zug nach Krakow am Tag der Reise bereits ausverkauft war. Der 6. Januar ist der Tag der Heiligen drei Könige und bedeutete in der Montagskonstellation ein langes Wochenende, was viele dazu bewegte zu den Verwandten zu fahren. Jenes bedeutete dann ein erhöhtes Reiseaufkommen. Das zog sich durch die ganze Fahrerei an diesem Wochenende (Freitagabend bis Montag früh). Nur ein einziges Mal war man auf einer kurzen Teilstrecke zu zweit in der Kabine. Ihr seht schon, die Pielgrzymka kibicow (Pilgerfahrt der Fans) war nicht das einzige Reiseziel.
Da fährt ein D-Zug in der Nacht noch nach Gdynia. Basketballverein Asseco hat ausgerechnet ein Heimspiel gegen Anwil Wloclawek, dessen Anhang sich vom üblichen Basketball-Publikum durch eine etwas rauere, stadionähnliche Gangart abhebt. Die Ruine der Torpedoversuchsanstalt der deutschen Luftwaffe und das alte Arka-Stadion komplettierten das touristische Programm.
Der Zug rollt bei bestem Frühlingswetter in Czestochowa ein. Der Wallfahrtsort Jasna Gora befindet sich unweit des Hauptbahnhofs und ist schon aus der Ferne gut durch den Turm zu entdecken. Zu diesem Ort führt dazu noch eine breite Straße, die ganz bestimmt nicht von Ungefähr so geplant wurde. Die ersten Fan-Gruppen wuseln durch die Gegend. Um 12 Uhr soll die heilige Messe für die Fans beginnen. Das geht hier fast im Stundentakt. Die Gruppe davor ist noch nicht ganz fertig und die Fans nehmen schon die Kapelle der heiligen Mutter Gottes in Beschlag. Das war ein so unwirklicher Anblick. Da musste man sich die Augen reiben. Hooligans und Ultras in solch einer großen Masse in einer Kirche zu sehen, ist definitiv nicht alltäglich. Es gab nun ein irres Gedränge. Irgendwie pegelte sich das Ganze bis zum Beginn ein. Man stand nun sehr dicht zusammen. Ein Umfallen war nicht möglich. Für Leute mit Platzangst wäre das hier der Horror gewesen!
Geschickt arbeitete ich mich relativ weit nach vorn. Die heilige Messe sowie die sich anschließende Vorlesung hatten das 70. Jubiläum des Warschauer Aufstandes als Kernthema. Es kam zum Ausdruck, dass den Helden von damals immer weniger Beachtung geschenkt wird. So wie in unseren Lehrplänen in den Schulen Karl der Große langsam verschwindet, so wird der polnischen Bildungspolitik vorgeworfen, dass ganz bewusst einigen Personen, die treu dem Vaterland gedient haben, auch weniger Beachtung geschenkt werden wird. Die Fans sind fast schon die Letzten, die in den Stadien durch Choreos und Gedenkveranstaltungen die Gefallenen noch heute würdigen. Dazu gab es dann noch ein paar Erinnerungen an den Aufstand von 1944 mit seinen Partisanenkämpfen, Untergrundaktivitäten, der zweifelhaften Haltung der Sowjetunion gegenüber den Polen und der Kapitulation am Ende.
In der sich anschließenden Vorlesung bekam man das Thema dann später noch ausführlich in aufgearbeiteter Form mit Einbeziehung der anwesenden Verwandten der Gefallenen vorgetragen. Der Pfarrer und Initiator Wasowicz, der sich über die rege Beteiligung freute, da unter den Anwesenden auch viele junge Leute zu finden waren, denen das Heimatland, in dem sie geboren wurden, noch sehr viel bedeutet. Die Predigt endete dann mit einem „Jeder echte Fan bekennt sich zu…“ Die Antwort folgte wie im Stadion aus der Masse: „Gott – Ehre – Vaterland!“
Anschließend begann das Weihen der mitgebrachten Zaunfahnen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Das ganze war eine feierliche und sehr ernst aufgenommene Veranstaltung. Hier traute sich niemand durch Disziplinlosigkeit aufzufallen - hier am heiligsten Ort Polens. Jeder war sich dieser Sache bewusst. Hier wusste auch jeder bis auf die Minute genau, wann das heilige Bildnis das letzte Mal geweint hat. Das Bild, Orgelspiel, die klassische Musikgestaltung, welche Ruch Chorzow übernahm, und die ausgewählte warme Farbkomposition dieser Stätte perfektionierten diese Angelegenheit zu einem einzigartigen Erlebnis. Zur Nationalhymne wurden dann zum Abschluss noch einmal alle Schals gezeigt.
Nach der Messe und der Vorlesung brauchte es eine Weile, bis die Choreo auf dem Wall vorbereitet war. Legia hatte sich dieser kleinen optischen Attraktion zur Ehrung der Gefallenen vom Warschauer Aufstand angenommen. Ringsherum ordnete man die Zaunfahnen (in den polnischen Farben) der Fangruppen an. Man wartete bis zur Dunkelheit, bis unter der Blockfahne mit dem PW-Symbol und einer schwarzen Folie mit transparenter Schrift Stroboskope flackerten. Dann wurde schnell heruntergezählt und unzählige Bengalos leuchteten auf. Das war der Wahnsinn! Das ging über sieben Minuten so weiter! Begleitet wurde diese optische Attraktion durch die Nationalhymne, Rufen wie „Ehre und Ruhm den Gefallenen!“ und kritisierenden Statements gegen die aktuelle Regierung, hinter welcher nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung steht laut Aussagen Anwesender. Ordnungsgemäß wurden dann die abgebrannten Teile gelöscht und eingesammelt.
Hier bewegte sich heute alles zivilisiert und kultiviert – für mich der große Unterschied zu Fanszenen anderer Länder. Den Abschluss bildete ein Konzert im Rittersaal des Klosters. Laut Presse beteiligten sich über 5.000 Fans an dieser Veranstaltung. Nahezu alle polnischen Fangruppen schickten Gesandte. Aus Deutschland war eine Vertretung des SV Blau Weiss Berlin (Nachfolgeverein von Blau-Weiß 90 Berlin) angereist.
Man kann abschließend sagen, dass die Organisatoren mit dieser Feier zufrieden sein konnten. Die Beteiligung war noch größer als im letzten Jahr, die Messe und der Vortrag waren sehr feierliche Akte und alles lief - wie sollte es auch anders sein? - friedlich ab. Alle großen schlesischen Fangruppen waren anwesend und es kam hier niemand auf die Idee, diese Angelegenheit durch einen Angriff oder Erbeuten von Fan-Utensilien zu stören. Damit zeigte man den Kritikern der Fans (Politiker, Medien und insbesondere Presse), welche diese immer wieder als verrohte Urmenschen darstellen, dass sie zivilisierte, glaubensstarke und treue Patrioten sind. Sie unterscheiden sich zwar alle durch die Vereinsfarben, sind aber durch die gemeinsame Sache und die katholische Kirche doch äußerst stark vereint.
Fotos: Michael