Aufbruchsstimmung in der Löwengrube: Ian Holloway sorgt für Euphorie beim Millwall FC

JP Updated 21 Januar 2014
millwall

Millwall13 Jahre und 12 Tage sind eine lange Zeit. In dieser wechselte ich zweimal meinen Wohnort, Partnerinnen kamen und gingen und auch beruflich tat sich eine Menge, glücklicherweise zum Positiven. Ein Fußballspiel in England schaute ich mir während all dieser Jahre allerdings nicht an. Damals, am 6. Januar 2001, war ich beim Drittligaspiel Reading vs. Millwall zu Gast gewesen, der Club aus Südlondon gewann seinerzeit mit 4:3. Dass es nach eben jenen 13 Jahren und 12 Tagen nicht nur ein Wiedersehen mit dem englischen Fußball, sondern auch mit Millwall geben würde, war ein reiner Zufall. 

The DenSeit 2001 hat sich der Fußball auf der Insel nicht unbedingt zum Besten entwickelt. Während ich das Glück hatte, die Premier League noch in der Mitte der Neunziger Jahre erleben zu dürfen, in der die Stadien zwar bereits vollständig versitzplatzt waren, aber trotzdem oftmals noch eine gute Stimmung herrschte, zeigte sich die hässliche Fratze der Kommerzialisierung seit dem in einem Ausmaß, welches sich wohl selbst die größten Pessimisten nie hätten träumen lassen. Das Kohlescheffeln stand über allem. Heute gibt es Premier League Clubs, in denen selbst die billigsten Karten nicht unter 50 Pfund zu bekommen sind, so dass sich die alteingesessenen Fans aus der Arbeiterklasse den Spielbesuch oftmals schlichtweg nicht mehr leisten können.

Maine RoadMit ihnen ging auch die Stimmung in den Stadien. Selbst ehemals legendäre Fantribünen wie der Kop in Liverpool oder das Shed End in Chelsea sind heutzutage Tribünen, auf denen nicht selten eine Totenstille herrscht, da sie im nicht unerheblichen Anteil von Touristen oder Erfolgsopportunisten bevölkert werden. Diese kommen nur einmal oder unregelmäßig und kennen somit natürlich nicht die gängigen Fangesänge, sondern definieren ihr Fantum über die Höhe des Umsatzes im Fanshop. Zudem sind mehr als die Hälfte aller Erstligisten anno 2014 in Händen von ausländischen, oftmals vollkommen fußballfremden Investoren.

WimbledonEin Club wie Wimbledon wurde bereits einfach um 100 Kilometer nach Norden „verpflanzt“, und selbst Heiligtümer wie die Vereinsnamen oder –farben werden heutzutage beliebig geändert, wenn dem Eigentümer sein Spielzeug in seiner ursprünglichen Form nicht mehr gefällt, was jüngste Beispiele aus Hull oder Cardiff beweisen. All dies sprach also dafür, in den letzten Jahren eher gen Südeuropa zu fahren, wo man in Ländern wie der Türkei, Griechenland oder Zypern noch stimmungsvolle Stadien erlebt, mit ungekünstelten Emotionen, echten Fans aus dem Kiez des Vereins, Pyroshows und letztlich eben auch bezahlbaren Eintrittskarten.

MillwallLetztlich waren es die mittlerweile spottbilligen Flugpreise, die mich dazu bewogen, England nach so langer Zeit eine neue Chance zu geben. Hin und zurück nach London für 58 Euro, günstiger geht es nicht. Jeweils teurer als beide Flüge zusammen wären die Spielbesuche bei Arsenal vs. Fulham oder bei West Ham United vs. Newcastle United gewesen, so dass Millwall der Zuschlag gegeben würde. Tickets waren hier zwischen 27 und 30 Pfund zu haben, und da der Zweitligist einer der Vereine ist, die man auf jeden Fall mal gesehen haben muss, war die Entscheidung keine schwere. Zugegeben, sportlich hat Millwall in seiner fast 129jährigen Geschichte nicht viel gerissen. Ganze zwei Spielzeiten lang waren die Lions erstklassig, nämlich 1988/89 und 1989/90. Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte war das Erreichen des FA Cup-Finales 2004, als gegen Manchester United zwar mit 0:3 verloren wurde, aber dank der Champions League-Qualifikation von ManUtd dennoch für den UEFA-Cup qualifiziert war und dort nach einem 1:3 und einem 1:1 gegen Ferencvaros Budapest in der ersten Runde ausschied.

Berühmt und auch berüchtigt ist Millwall dagegen für seine Fans. Nicht nur, dass sie das alte Stadion „The Den“ durch den berühmten Millwall-Roar oftmals in eine für Gegner nur schwer einnehmbare Festung verwandelten – nein, die Bushwackers zählen seit Jahrzehnten zu den härtesten Hooligans der Welt. Und selbst wenn die Zeiten der „Englischen Krankheit“ längst vorbei sind – vereinzelt gab es auch in den letzten Jahren noch Tohuwabohu, beispielsweise bei Pokalspielen gegen Birmingham City oder den Erzrivalen West Ham United, die beweisen, dass man Millwall auch heute noch mit Respekt begegnen sollte, was wir taten.

MillwallDas Stadion liegt in einer – noch – schäbigen Gegend im Südosten Londons. Warum „noch“? Nun, die Gentrifizierung macht auch vor Bermondsey nicht halt. In einem Stadtteil, in dem man heute noch überwiegend Schwarze und Inder sieht, wachsen langsam Luxus-Wohnparks, vor denen dicke Autos stehen und die mit Stacheldraht und modernsten Überwachungsanlagen umgeben sind. Hat man dann die berühmte Durchfahrt unter der S-Bahn, bekannt aus dem Film „Hooligans“ mit Elijah Wood, durchschritten, sind es nur noch wenige hundert Meter bis zum „New Den“. Vorbei an einer Ladenzeile mit hauptsächlich Imbissbuden und Wettbüros sowie alten Industrieanlagen, biegt man plötzlich links ab, und durch einen weiteren Torbogen sieht man schon das Stadion – herrlich. Rund um den Ground herum geht es zu wie in den 90er Jahren. Souvenirhändler gibt es dort, Burger direkt vom Grill, Losverkäufer, einen nicht überdimensionierten Fanshop mit überraschend fairen Preisen, und sogar der Verkäufer eines Oldschool-Schwarzweiß-Fanzines findet seine Kunden. Herrlich, die ersten Eindrücke sind auf jeden Fall richtig gut.

The DenBetritt man dann das Stadion, wird man weiter positiv überrascht. In der Ummantelung, die mal gar nicht auf chic getrimmt ist, findet man einige Bildschirme mit den laufenden Spielständen von anderen Plätzen und Pferderennbahnen – das Wetten ist in England nach wie vor weit verbreitet und ein Wochenendvergnügen für den kleinen Mann. Und die Imbisse erst – hier gibt es keine Erlebnisgastronomie, sondern noch das klassische englische Stadionmenü. Nämlich Pies (Blätterteigpasteten mit Fleischfüllung) oder fettige Hot Dogs. Und Bier. Ja, echtes Bier. Keine Lightplörre, sondern Vollbier. Nicht aus Pfandbechern, sondern direkt aus der Flasche. Nur mit ins Stadioninnere dürfen jene nicht genommen werden – aber davon und von den hohen Preisen (3,20 Pfund für einen Pie, 4 Pfund für 0,5l Carlsberg) abgesehen, ist hier die englische Fußballwelt noch in Ordnung.

IpswichDie gute Stube war überraschend gut gefüllt. Während sich hier zuletzt zum Teil nur noch vierstellige Zuschauerkulissen tummelten, gab es durch den Trainerwechsel in der Vorwoche so etwas wie eine neue Aufbruchsstimmung, und insgesamt waren 12.125 Gäste vor Ort. Davon übrigens auch 1.298 (offizielle Zahl!) Anhänger aus Ipswich. Apropos Trainerwechsel: Nachdem die Lions der Abstiegszone immer näher kamen, aus den letzten sieben Pflichtspielen nur ein Unentschieden holten und sich im Pokal beim Viertligisten Southend United sogar mit 1:4 blamierten, reagierte der Vorstand und verpflichtete Ian Holloway. Jener schaffte mit seinen letzten beiden Vereinen, den vergleichsweise grauen Mäusen Blackpool und Crystal Palace, jeweils den Sprung in die Premier League und soll nun Millwall in ruhigeres Fahrwasser führen. Spielerisch war die Anfangsphase allerdings alles andere als prickelnd. Vom favorisierten Gast aus Ipswich, mit Mick McCarthy – dem einzigen Iren, der bisher als Spieler und als Trainer jeweils an einer WM-Endrunde teilnahm – ebenfalls von einem prominenten Coach trainiert, kam fast gar nix.

MillwallWenn eine Mannschaft aktiv war, dann Millwall, wenngleich die Aktionen meist nicht besonders zielgerichtet oder effektiv waren und der letzte Pass selten ankam. Erst nach einer halben Stunde konnte sich Ipswich etwas befreien und schoss zwei Mal aufs gegnerische Tor. Die Stimmung in den ersten 30 Minuten war okay. Auf Seiten des Gastgebers gab es immer wieder Supportbemühungen und vereinzelt wurde es auch richtig laut, aber mehr war es noch nicht. Die Gäste dagegen enttäuschten auf ganzer Linie. Direkt unterm Dach hatte sich ein 50köpfiger Haufen gefunden, der gelegentlich ein paar Lieder sang, aber insgesamt vollkommen wirkungslos blieb. Da boten die 300 Herren auf der Gegengerade, in Richtung Gästeblock, schon etwas mehr. Sie waren lauter als der eigentliche Fansektor hinterm Tor und pöbelten auch immer wieder gut in Richtung Ipswich, aber es blieb alles auf der verbalen Ebene, wenngleich sich hier schon etliche Brecher und vermutlich einige hundert Jahre Knasterfahrung zusammen gefunden hatten.

MillwallDie bis dahin wie gesagt ganz passable Stimmung – welche bereits über dem Erwarteten lag – steigerte sich in der 40. Minute zu einem lauten Jubelorkan, als Millwall in Führung ging. Fredericks hatte von Rechts aus 25 Metern abgezogen, Ipswich-Keeper Loach hatte sich verschätzt und so schlug der Ball hoch im Winkel ein. Der Rest der ersten Halbzeit war eine einzige Jubelorgie in Blau-Weiß, und der Pausenpfiff störte diese fast, aber unterbrach sie nur, denn sie wurde nach dem Beginn der zweiten 45 Minuten fortgesetzt. Mit zunehmender Spieldauer wurde der Support immer lauter, kontinuierlicher und fanatischer. Sicherlich, er war nicht besonders vielfältig. Millwall verfügt über nur wenige Gesänge, aber diese wurden dafür umso lauter vom Publikum getragen, teilweise von allen Zuschauern gleichzeitig. Und wenn 10.000 Leute „No one likes us – we don’t care“ singen, dann wirkt dies auch anno 2014 noch verdammt beeindruckend und für den Gegner möglicherweise auch einschüchternd. Diesen Eindruck machte zumindest der in der Tabelle zehn Ränge besser platzierte Gast, der den Gesängen und dem bekannten Roar nichts entgegen zu setzen hatte.

MillwallDoch nicht nur das Publikum gewann das Spiel, sondern auch eine aufopferungsvoll kämpfende Mannschaft. Sicherlich, fußballerisch war das alles recht limitiert, aber hier stand ein echtes Team auf dem Platz, in dem jeder für seinen Mitspieler kämpfte. Dass in der 86. in einer Spielunterbrechung gleich drei Millwall-Spieler zeitgleich wegen Wadenkrämpfen behandelt wurden, unterstreicht nur den Aufwand, mit dem hier gespielt wurde. Über allen stand dabei sicherlich Danny Shittu, 24facher nigerianischer Nationalspieler und ein wirklicher Brecher vor dem Herrn. Mit seinen 1,91 Metern Körpergröße und sicherlich 100 Kilogramm purer Muskelmasse warf er sich mit vollstem Einsatz in jeden Zweikampf, verlor kein Kopfballduell und war am Ende Hauptgarant des Sieges. Dieser war unterm Strich hoch verdient, denn obwohl sich Ipswich in der zweiten Halbzeit, zumindest hinsichtlich des Ballbesitzes, über weite Strecken ein Gleichgewicht erspielen konnte, ließen die Südost-Londoner aufgrund ihres unglaublichen Kampfgeistes keinerlei Zweifel daran aufkommen, wer als Sieger den Platz verlassen würde.

The DenIch habe Millwall in den letzten Spielen nie gesehen – aber Fakt ist, dass wenn das Auftreten auch in den Vorwochen schon so gewesen wäre, die Lions nie in Abstiegsgefahr geraten wären. Offenbar trifft aber die oft zitierte Weisheit zu, dass neue Besen gut kehren und Trainer Ian Holloway seiner Mannschaft einen neuen Geist eingeimpft hat. Und auch das Publikum wirkte so, als sei es aus einer langen Lethargie erwacht stellte und nach einer ewigen Pause neu fest, wie viel Spaß es machen kann, seine eigene Mannschaft aus vollster Kehle zu unterstützen und einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg zu leisten. Die aus Berlin angereisten Gäste jedenfalls fühlten sich nicht nur bestens unterhalten, sondern fieberten mit zunehmender Spielzeit immer stärker mit. Danke Millwall, das war geil!

MillwallNach der Rückkehr aus Bermondsey traf sich die deutsche Groundhopperschaft am Abend in einem Pub an der Baker Street, um die Zeit bis zum Rückflug am nächsten Morgen mit ein paar Kaltgetränken zu überbrücken und über die gesehenen Spiele zu philosophieren. Insgesamt 13 Leute groß war die Reisegruppe. Während vier davon bei Millwall waren, schauten andere die Spiele Crystal Palace vs. Stoke City, Queens Park Rangers vs. Huddersfield Town oder West Ham United vs. Newcastle United. Und bis auf die Besucher von West Ham waren alle mehr oder weniger begeistert von ihren Erlebnissen. England ist also doch noch nicht komplett tot. Denn selbst wenn bei den großen Vereinen mittlerweile der Kommerz die Fankultur erdrückt hat, gibt es sie noch, die Clubs, deren Fans den erschwerten Bedingungen trotzen und die ihren Verein nicht nur durch ihre bloße Anwesenheit unterstützen. Mutterland des Fußballs – wir sehen uns bald wieder!

Fotos: Marco Bertram (Archivaufnahmen), Jörg Pochert (aktuelle Millwall-Fotos)

> zur turus-Fotostrecke: Fußball in England inkl. Millwall

Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
21 Januar 2014
Spielergebnis:
1:0
Zuschauerzahl:
12.125
Gästefans
1298

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