Man sollte nicht unbedingt mit dem Text der „Insane Ultra“ beginnen. Der Sepp mit den aufgerissenen Augen und der herausgestreckten Zunge scheint nämlich Programm zu sein. Aber ja, wie heißt es im Text so schön? „Unser geisteskranker Wahnsinn traf im Namen von Insane Ultra auf den genormten Alltag, jenseits von Gut und Böse!“ Das kann ich unterschreiben. Nachdem ich bei Meister Trosien den „Blickfang Ultrà Saisonrückblick 2015/16“ persönlich abgeholt hatte und ich bei einem Cafezinho einen ersten Blick in den 322-seitigen fetten Wälzer warf, blieb ich auf Seite 208 hängen. Von vorn nach hinten mochte ich das mächtige Teil nicht durchlesen. Gleich mit den Ultras Regensburg zu beginnen, erschien mir nicht soooo prickelnd. Vielmehr ließ ich den Zufall walten und blieb hier und dort hängen. Ich las das Kapitel über Eintracht Trier und verlor recht bald den Faden. Nicht dass das Geschriebene uninteressant ist - ganz im Gegenteil -, doch so recht überzeugt war ich nicht. Gaudi ohne Bullen, Bock auf Trouble, den Wahnsinn rollen lassen, Sonne auf die Plauze, zu bekämpfende Zivi-Schweine, geplatzte Träume und aus Reibung entstehende Energie …
Von UN bis Red Kaos: Probleme, Aktionen und Highlights der Ultra-Gruppierungen im Rückblick
HotIch verkrafte lesetechnisch so einiges und kann in der Regel lange Texte so ganz nebenbei aufsaugen und gedanklich verwerten. Beim Text der „Insane Ultra“ hatte ich jedoch einige Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass genau diese Seiten über Eintracht Trier eine andere Schriftart haben und noch enger gedruckt wurden. Kurzum: Ich war bereits beim ersten Kapitel ein wenig ernüchtert. Würde das ganze Heft etwa in diesem Stil herbeikommen? Da ich Anfang der 90er Jahre für drei Jahre die Zelte in Leverkusen aufgeschlagen hatte, blätterte ich zwei Cafezinhos später mal gleich zum Rückblick der Ultras Leverkusen. In diesem gibt es eine klare Struktur. Aufgegliedert in „Repression“, „Europa“, „Bundesliga“ und „Basketball“. Flott zu lesen, doch vielleicht an manchen Stellen dann doch zu ausführlich? Ins Auge fallen in jedem Fall zwei Fotos: Bremen auswärts und Lotte auswärts im Rahmen des DFB-Pokals. In Bremen wurde Aufstellung genommen, während im Vordergrund ein paar Normalo-Leute gemütlich ein Getränk auf den Bierbänken zu sich nehmen. Ein witziger Anblick. Die gemischte, kernige Truppe hebt in der letzten Reihe die Fäuste - ein älteres Ehepaar schaut sich das Ganze seelenruhig an, rechts außen dreht sich jemand im Werder-Trikot um, ein Mann hebt genüsslich sein Weizenglas.
Aufstellung wurde auch an einem Strand eines nahen Badesees genommen. Fast exakt 100 Männer - Frauen schienen nicht dabei gewesen zu sein - standen mit Shorts und freiem Oberkörper an der Badestelle. An zentraler Stelle wurde das Diffidati-Banner (Ausgesperrte mit uns…) gehalten. Am linken Rand ließen sechs Leverkusener die Muskeln spielen und deuteten somit an, dass auch mit LEV nicht gut Kirschen essen ist. Allerdings dürfte dies nicht wirklich überraschen. Schließlich hatte Bayer 04 selbst Anfang der 90er Jahre, als die Ränge des Ulrich-Haberland-Stadions eher spärlich gefüllt waren, stets eine schlagkräftige Truppe am Start.
Witzigerweise folgt im BFU-Saisonrückblick hinter den Ultras Leverkusen der Text von der Aachener Karlsbande. Auch diese hatte beim Auswärtsspiel der Alemannia bei Sportfreunde Lotte vor der Partie ein Stelldichein am Badestrand. Allerdings weniger mit spielenden Muskeln, sondern bekleidet mit Hawaii-Hemden. Das Motto der damaligen Tour nach Lotte: „Mallemannia“. Mit dabei im Gepäck: Neben der Urlaubskleidung noch aufblasbare Palmen und Tiere sowie einige Portionen bunter Rauch. Auch wenn es letztendlich am Ende der Regionalliga-Saison nur noch um die „Goldene Ananas“ ging (Motto beim Auswärtsspiel beim SC Verl), so schaut die Karlsbande - was das Geschehen auf den Rängen betrifft - recht zufrieden zurück. Die Zusammenarbeit mit den beiden kleineren Gruppen läuft inzwischen besser, und der Stil wird es auch in Zukunft sein, nicht einfach dem Leitfaden von Ultra-Mainstream zu folgen. Insgesamt betrachtet ein guter Text, in dem auch mit Selbstkritik nicht gespart wurde (Stichwort aus dem Ruder gelaufene Pyroshow in Dortmund).
Nach anfänglicher Skepsis überwog nach dem Lesen der ersten Gruppen-Rückblicke ein positives Gefühl. Wieder ist es den Jungs von Blickfang Ultrà gelungen, ein pralles Saisonrückblick-Heft zu zaubern. Mein lieber Schwan - diesen Brocken liest man nicht einfach so bei einer Kanne Bier. Die zehn Taler sind prima investiert. Lesestoff für einige Bahnfahrten steht nach dem Kauf dieses Heftes bereit. Allein das Durchblättern bereitet immense Freude, denn fototechnisch hat jede Gruppierung ordentlich was zusammengestellt. Angefangen mit einem Panorama-Blick im neuen Regensburger Stadion vom Fanblock aus bis hin zu den Zwickauern in Neustrelitz und Bautzen. Red Kaos und die Riot Kids bilden somit den Abschluss des Heftes. Und wenn wir schon mal bei Zwigge sind: Der Rückblick von „Red Kaos 97“ ist erste Sahne, was aber nicht wirklich überrascht. Schließlich dürfte landesweit bekannt sein, dass die Zwickauer ein paar hervorragende Schreiberlinge unter sich haben. Etwas überrascht indes das Aufmacherfoto der Zwickauer. Jeder, der einmal mit fantechnischem Bezug bei einem Spiel des FSV Zwickau fotografiert hatte, wird wissen, wie sehr mit Argusaugen beobachtet wird, was man im Innenraum anstellt. Umso erstaunlicher ist es, dass auf dem Foto in erster Reihe jemand komplett unverpixelt daher kommt. Während den anderen in erster Reihe ein Schleier auf das Gesicht gesetzt wurde, steht der junge Mann mit Brille ganz frisch und frei mit im Vordergrund.
Allein ein chronologisch aufgebauter Rückblick wäre zu fade. Vielmehr möchte man von den einzelnen Gruppierungen Dinge erfahren, die man sonst nicht zu lesen bekommt. Im Fall von „Red Kaos 97“ sind die Hintergründe zum Abschalten der eigenen Webseite und dem generellen Herunterfahren von Fotos in sozialen Netzwerken äußerst interessant zu lesen. Ein Hopper, der das nächste Mal auf den Rängen von einem Zwickauer Späher kräftig angemauzt wird, weiß dann immerhin, weshalb man in Westsachsen dermaßen gereizt in Sachen Bilderüberflutung und Omnipräsenz im Internet ist.
Schickten die Zwickauer ihren besten Mann an den Schreibtisch, so taten dies auch einige andere Gruppierungen. Im Fall der „Ultra-Szene KMS“ (Chemnitzer FC) ahnt man sehr schnell, wer wohl kräftig in die Tasten gehauen hatte. Ein starker Text über eine aufregende Saison (Abstiegsgefahr, 50. Geburtstag und zwei Duelle gegen den „Schacht“). Ebenso stark sind die Fotos, die das Ganze mehr als auflockern. Meine Fresse, denkt man, der Osten kann echt was auffahren. Schaut man sich die Truppe in den blauen Schutzanzügen an, die auswärts nach Aue gereist war, kann man durchaus den Hut ziehen. Der Text und die Fotos gehören ganz klar zu einem der Höhepunkte dieses Heftes. Einzig die Beschreibung der Heim-Choreo beim Spiel gegen den Erzrivalen aus dem Schacht erscheint etwas zu ausführlich.
Bleiben wir in Sachsen. Auch die „Ultras Dynamo“ haben sich wieder mächtig ins Zeug gelegt. Auf hohem Niveau werden die wichtigsten Dinge der zurückliegenden Spielzeit erläutert - die riesige Blockfahne, die das ganze Stadion bedeckte, beim Heimspiel gegen Magdeburg inklusive. Dass man in Dresden aus dem Vollen schöpft, überrascht wenig. Texte, Fotos, Videos - die SGD ist stets auf höchstem Niveau aufgestellt. Yeap, denkt man sich, und nun mal los mit dem 1. FC Magdeburg und dem F.C. Hansa Rostock! Block U / Blue Generation und die Suptras / Fanatics sind jedoch nicht im BFU Saisonrückblick vertreten. Und sie sind nicht die einzigen großen Gruppierungen, die nicht mitmachen wollten. Mal mit Begründung, mal ohne Kommentar. So gibt es auch nichts vom FC St. Pauli zu lesen, nichts vom Hamburger SV und auch nichts aus Braunschweig. Es fehlen zudem unter anderen Texte aus Dortmund und von den Ultras Frankfurt. Wären diese Schwergewichte auch dabei, würde das Heft wahrscheinlich jegliche Rekorde brechen. So aber muss man teilweise mit Texten über kleinere Gruppierungen vorlieb nehmen. Was auch nicht schlecht ist, denn somit erfährt man auch einiges über die Sorgen und Nöte in den unteren Ligen.
Die „Ultras Gera 99“, „Inferno Koblenz 2003“, die „Turnschuhcrew Ultras“ der Sportfreunde Siegen, „Supside“ von Holstein Kiel, die „Amisa Ultra Meppen“, die „Szene E“ des SSV Reutlingen und das „Ultrà Kollektiv Lübeck“ geben Einblicke in das Geschehen rund um die jeweiligen Gruppierungen. Wobei der verfasste Text aus Lübeck doch recht arg kurz ist. Andererseits denkt man sich: In dieser Form „in der Kürze liegt die Würze“ hätten auch noch rasch ein paar andere kleinere Vertreter ein kleines Statement abgeben können. Allerdings ist dies Nörgeln auf hohem Niveau. Wenn 32 Gruppen aus 31 Szenen Texte und Fotos abliefern, ist das schon eine Wucht. Das muss man erst einmal umsetzen! Vom Layout in der kurzen verfügbaren Zeit ganz zu schweigen. Wie viele Tassen Kaffee muss der Grafiker nächtelang geschlürft haben, um all die Berichte und Fotos in Stellung zu bringen?! Wahnsinn!
Auf der Tour nach Luckenwalde, auf der Bahnfahrt nach Jelenia Góra, beim abendlichen Bier, während einer Wanderpause auf einer verlassenen Burg, abends als Bettlektüre. Stundenlang kam ich in den Genuss dieses Heft zu wälzen. Ja, vieles verschwindet sogleich im gedanklichen Nirvana. Sportliche Eckdaten, manches, was sich wiederholt, etliche banale Dinge - das Meiste bleibt nun mal nicht im Geiste hängen, zumal man täglich in den sozialen Netzwerken bereits mit News, News, Videos, Videos, Fotos und nochmals Fotos überhäuft wird. Manches aus dem Heft blieb jedoch dauerhaft hängen. Unter anderen die Schilderungen der „Legio Augusta“ zu den Auftritten im Europapokal und dem Trauermarsch, an dem rund 800 Fans des FC Augsburg teilgenommen hatten. Max und Dani, Mitglieder der „Legio Augusta“ kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, zwei weitere Mitfahrer wurden schwer verletzt.
Als Ganzes hatte sich auch der Text der „Ultras Nürnberg“ abgehoben, was auch daran liegt, dass man wie in Dresden und Chemnitz Autoren zur Hand hat, die ihr Handwerk verstehen und auch einen langen Text äußerst kurzweilig verfassen können. Es ist schwer, unter den 32 Texten einen persönlichen Favoriten zu finden. Einen Text möchte ich trotzdem hervorheben: Und zwar den vom „Wuhlesyndikat“ des 1. FC Union Berlin. Das mag überraschen, da mir häufig vorgeworfen wird, zu sehr weinrot angehaucht zu sein. Doch Lob denjenigen, die Lob verdienen: Ein verdammt ehrlicher Rückblick, der sehr objektiv und ehrlich wirkt. Was die Identifikation mit der ersten Männermannschaft betrifft. Was die Stimmung auf den Rängen betrifft. Was die die Zahlen bei den Auswärtsfahrten betrifft. Mit wirklich großem Interesse saugte ich das Geschriebene auf und dachte mir dabei: Völlig auf den Punkt gebracht!
Davon ganz abgesehen ist kein Text wirklich schlecht. In manchen Rückblicken wird es mal oder weniger etwas langatmig - und ja, den Bericht aus Trier fand ich etwas zu konfus -, doch unter dem Strich hat jeder Text etwas zu bieten. Die Umsetzung der Choreographien bei den Europapokal-Heimspielen von Borussia Mönchengladbach, die Stuttgarter Demo gegen Montagsspiele, das „die hatten halt einfach Bock sich zu boxen“ beim Auftritt des FC Bayern München in Piräus, die kritischen Stimmen auf Schalke gegen den Fleischfabrikanten, der Schalker Trainingsbesuch vor dem Derby, die quasi letzten ausführlichen Worte der Gruppierung „Giasinga Buam 1860“, die Kritik der „Weekend Brothers“ des VfL Wolfsburg an der Eventgeilheit der allgemeinen Masse, die Schilderungen der „Saalefront Ultras“ zu den Feierlichkeiten des 50. Geburtstages des Halleschen FC, der Kölner Fan-Demo in Mönchengladbach (gekürzte Ticketkontingente beim Derby) oder auch der Textabschnitt der „Harlekins Berlin 98“ über den 3:0-Sieg der Hertha gegen den HSV, nach dem es einer der lautesten „Uffta“ seit eh und je gab.
Für etwas Verwirrung sorgt indes der Fakt, dass gleich zwei Gruppierungen des 1. FC Kaiserslautern im Saisonrückblick vertreten sind. Sowohl die „Generation Luzifer“ als auch das „Pfalz Inferno“ kommen zu Wort, allerdings ist alles zusammen auf elf Seiten gerafft. Zum Vergleich: Allein die „Ultras Leverkusen“ haben satte 14 Seiten eingenommen. Fazit: Ein geniales Werk, wenn gleich man doch immer wieder denkt: Mensch ja, jetzt noch die Frankfurter, Magdeburger, die Rostocker und vielleicht auch noch die Chemiker aus Leutzsch mit im Boot - dann wäre alles perfekt. ;-)
Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft, Fabian Kleer, Marcus Hengst, sachseninformer, Claude Rapp, Steven Mohr
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