Der Tod des Lazio-Fans Gabriele Sandri. Rechtsextremisten in Ultrà-Gruppierungen. Fanproteste gegen die Ticketsituation und den Ausschluss von Gästefans. Interessiert man sich für das Geschehen in italienischen Fankurven (und auch darüber hinaus), wird man früher oder später auf den überaus lesenswerten Blog altravita.com gestoßen sein. Diese Seite wird bekanntlich von Kai Tippmann betrieben, der einst vor etlichen Jahren in Deutschland die Koffer gepackt hatte und sich im Norden Italiens niederließ. Eine Entscheidung, die er bislang noch nicht eine einzige Minute bereut hatte. Neben den Berichten im Blog selbst gibt es regelmäßig bissige und witzige Kommentare / Einträge auf der dazugehörigen Facebook-Seite. Ist man mit Kai Tippmann auf Facebook auch persönlich verknüpft, bekommt man ausgewählte private Details zu sehen. Seine Vorliebe für RTL2 zur Mittagsstunde wurde legendär. Die Kommentare unter den entsprechenden FB-Einträgen sind ebenfalls äußerst unterhaltsam. Locker flockig, ohne Shitstorm, Hass und Neid. Apropos Neid. Etwas neidisch könnte man ab und an werden, wenn Kai mal wieder ein Foto von seinem herrlichen Ausblick auf die norditalienische Landschaft postet. Verdammt, schießt es einen durch den Kopf, wenn man rausguckt und das trübe Berliner Herbstwetter sieht. Dieser Mann hat es richtig gemacht. Wie es dazu kam, dass er nach Italien zog, wird er indes selbst erzählen:
Kai Tippmann im Interview: Ferienlagererlebnisse, italienischer Fußball und sein Projekt altravita.com
turus: Hallo Kai, wie geht´s Dir? Kürzlich hast du uns auf Facebook mit hübschen Bildern aus Norditalien gefüttert, während wir hier mit arg trübseligem Wetter zu kämpfen hatten. Ich nehme an, du wirst es nie bereut haben, von Deutschland nach Italien zu ziehen. Wann hattest du eigentlich einst die Entscheidung getroffen, die Koffer zu packen und dich jenseits der Alpen niederzulassen?
Kai Tippmann: Ich kannte das Land ja durchaus von Reisen und Urlauben, habe Fußball geschaut, am Strand gelegen, Sonne getankt, gut gegessen und viel getrunken. Und am Ende des Urlaubs oder der Tour ging es mir halt wie vielen anderen auch, ich wollte nicht mehr zurück beziehungsweise ich konnte es nicht erwarten, wieder nach Italien zu fahren. Und weil ich sowieso schon selbständig von Zuhause aus arbeitete, wollte ich das dann auch einfach mal versuchen. Keine Ahnung mehr, wie vielen Leuten ich seinerzeit geantwortet habe „Man muss doch in Italien leben können, 60 Millionen Menschen machen es jeden Tag vor. Und wenn es nicht schön wird, dann komm ich eben einfach wieder zurück.“ Das ist jetzt mehr als 16 Jahre her.
Manche kennen dich als Übersetzer, andere kennen dich neuerdings von Talk-Runden im Fernsehen, die meisten deutschen Leser werden dich jedoch von deinem Blog „altravita.com“ kennen. So erging es auch mir, es muss vor zirka sechs, sieben Jahren gewesen sein, als ich das erste Mal auf einen Text von dir stieß. Ich stöberte nun noch einmal und fand den ersten Fußball-Eintrag vom April 2003. AC Milan vs. Ajax Amsterdam, CL-Viertelfinale. Betriebsausflug zum San Siro. Über zwei Jahre später hieß es: „Es hat eine Weile gedauert seit dem letzten altravita.de Betriebsausflug nach San Siro…“ Erinnerst du dich? Schalke 04 zu Gast bei deinem Lieblingsverein. Meiner Meinung nach den ersten echten Meilenstein hast du im November 2007 nach dem Tod des Lazio-Fans Gabriele Sandri gesetzt. Du hattest damals sehr deutliche Worte gefunden. Vermutlich gab es viel Zustimmung und Feedback. Hattest du dir eigentlich auch mal Ärger eingehandelt mit einem kritischen Text?
Ärger würde ich nicht sagen, es ist ja vergleichsweise bequem, in deutscher Sprache über italienische Gegebenheiten zu schreiben. Zumal eben auch über Geschichten und Vorkommnisse, über die sonst niemand schreibt und über die viele sich noch gar keine Meinung bilden konnten. Ich hatte aber mal einen schönen Dialog qua Pressemitteilungen mit dem Polizeichef von Catania, der sich darüber empörte, dass da deutsche Kurven überall „Speziale libero“-Transpis aufhängten und über einen Kalender Gelder für Speziales Strafverteidigung sammelten. Für den waren das natürlich alles Menschen, die Verbrecher unterstützten, wie ja für Frau Schönau von der SZ auch bloß. Speziales Anwalt Lipera ließ der Presse dann immer die Antworten des deutschen Bloggers zukommen.
Ansonsten ist es eben ein Blog und ich denke, ich mache durchaus auch deutlich, wenn ich über die Fakten hinaus auch meine Meinung schreibe. Und so kommt es wie bei jeder Meinung auch dazu, dass Leser eine andere Meinung haben, Dinge ergänzen oder auf Fehler hinweisen. So lange das ohne Beschimpfungen abläuft und sinnvoll argumentiert wird, finde ich das auch ganz hervorragend so. Neben zwei, drei anderen Punkten bin ich nämlich am meisten stolz auf den Umstand, dass ich Website wie Facebookseite mit mehr als 11.000 Followern völlig problemlos in meiner Freizeit betreiben kann, ohne andauernd Kommentare löschen oder Kommentierer bannen zu müssen. Obwohl sich dort Fans aller möglichen Vereine tummeln, kommt es praktisch nie zum üblichen Facebook-Geprolle, das anderswo üblich ist. Kurzum, für Aggression und Hass gibt es jedes Wochenende Platz im Stadion – auf altravita sollen die Leute in einer angenehmen Atmosphäre über Fußball diskutieren können. Es scheint, als würde das funktionieren.
Wie und wann kamst du eigentlich auf die Idee, altravita.com ins Leben zu rufen?
Das hast Du in der vorhergehenden Frage eigentlich schon fast selbst beantwortet. Ich schrieb auf altravita.de zu allen möglichen Themen, so auch ab und zu mal ein paar dürre Zeilen zu Stadionbesuchen im San Siro. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, dass sich irgendjemand in Deutschland dafür interessieren könnte, was im italienischen Fußball oder schlimmer noch, in den italienischen Kurven so passiert. Insofern waren die beiden Altravita-Seiten eine technische Spielwiese für Webdesign, in denen ich notgedrungen auch Texte liefern musste. Nachdem ich mit offenem Mund nach der Tötung Gabriele Sandris einen Tag lang den hiesigen Medienzirkus verfolgt hatte, war ich so geladen, dass ich einen wütenden Text dazu ins Netz stellte. Am nächsten Morgen hatte der mehrere zehntausend Abrufe und altravita.com hatte nun auch ein Thema. Wie eben bereits gesagt, konnte ich mir nie vorstellen, dass italienischer Fußball irgendjemanden außerhalb Italiens interessiert und die zwischenzeitliche Geburt der Ultras in Deutschland hatte ich vollkommen verschlafen. Ab da war mir klar, dass ich natürlich über das schreiben wollte, was mir sowieso am meisten am Herzen liegt. Hab ich dann auch gemacht.
Bekanntlich geht es auf deiner Seite nicht nur um Fußball. Es gibt „Italienisch für Anfänger“, Rezepte, Infos zu Musik und Filmen und ein einen fünfteiligen Bericht zum Thema „Rauchen aufhören“. Man / frau kann sich bei dir melden, wenn es Fragen zu Eintrittskarten in Italien gibt, wenn jemand eine hübsche Immobilie sucht oder einen wirklich guten Restaurant-Tip haben möchte. Eine Frage (die auch uns von turus.net immer wieder gestellt wird): Kannst du eigentlich davon leben?
Alle anderen von dir genannten sind Rubriken von der altravita.de, eine Domain, die seit 2007 praktisch tot ist, deren Inhalte aber auf altravita.com gespiegelt werden. Natürlich kann man davon nicht leben, aber immerhin tragen sich die 15 Euro Serverkosten im Monat von allein. Tagsüber programmiere ich gegen Bezahlung Datenbanken oder denke mir Wagenkorbsysteme für den elektronischen Einkauf aus oder sowas.
Deine Einträge auf Facebook beweisen es: Du hast Humor. Ich kann mich dran erinnern, dass du öfters durchgucken ließt, dass bei dir am Vormittag auch mal RTL 2 läuft. Der Entspannung und der Unterhaltung wegen. Wie sieht der übliche Alltag des Kai Tippmann aus? Italienisches oder deutsches Frühstück? Oder gar Frühsport am See, den du öfters auf Fotos präsentierst?
Wenn Menschen eine Homestory von dir sehen wollen, dann hast du es geschafft! Ich stehe grundsätzlich ohne Wecker auf und bereite mir an der daneben stehenden Espresso-Maschine echtes italienisches Frühstück: 3 Espresso und 2 Zigaretten. Die Frage nach dem Frühsport sollte sich erledigt haben, schlimmstenfalls gehe ich im Sommer am Abend noch ein paar Stunden an den Strand. Vom Schreibtisch, an dem ich der Lohnarbeit fröne, aus sehe ich tatsächlich praktisch ausschließlich RTL2. Ich habe mit den dort dargestellten Menschen ja sonst nichts zu tun und so ist das für mich wie ein Zoobesuch oder eine Doku auf Discovery Channel. Außerdem ist das humoristische Potential von Frauentausch oder Pietro Lombardi nicht zu unterschätzen. Wenn ich mich weiterbilden möchte, lese ich ein Buch, Fernsehen eignet sich sowieso mehr für die Skurrilitäten dieser Welt.
Um den Bogen zum Fußball zu schlagen: Bekanntlich ist der AC Milan der Verein deines Herzens. Wie kam es dazu?
Erfolgsfan halt. Ich durfte im Rahmen der Übertragungen des Europapokals der Landesmeister den Auftritten Milans beiwohnen. Sacchis Milan rund um Van Basten, Gullit und Rijkaard hatte soeben den Totaalvoetbal perfektioniert und rein fußballerisch war es eine Offenbarung. Während die Bundesliga von Vokuhilas mit Schnauzbart bevölkert war, deren größte Tugenden Blut, Schweiß, Tränen und malträtierte Schienbeine waren, zelebrierte Sacchis Truppe einen taktisch hochwertigen, offensiven, schnellen und einfach wunderschönen Fußball. So war ich schonmal angefixt. Mein eigener Verein, Stahl Thale, verschwand gemeinsam mit dem Stahlwerk ungefähr zwei Jahre später in den Niederungen des Regionalfußballs und war für mich auch nicht mehr zu verfolgen, weil ich mittlerweile in Berlin lebte. Dann kamen erste Stadionbesuche dazu, das Internet als Informationsquelle und relativ zügig wurde aus meiner fußballerischen Begeisterung für Milan das, was man Fansein nennt. Sicher eine unorthodoxe Karriere, aber man sucht sich seinen Verein ja auch nicht aus.
Wenn die Angabe stimmt, bist du zwei Jahre älter ich. Also Baujahr 1971. Du bist in der DDR aufgewachsen, hast die Polytechnische Oberschule in Thale im Harz besucht und erlebtest den Mauerfall, als du gerade erwachsen warst. Erste Frage: Hattest du bereits mit einer Ausbildung bei irgendeinem Kombinat angefangen oder hattest du die Möglichkeit, die EOS zu besuchen?
Ich habe die EOS in Quedlinburg sogar abgeschlossen und einen Studienplatz als irgendwas in Leipzig in der Tasche. Glücklicherweise hatte ich eine Woche vor der Einberufungsuntersuchung für die NVA einen Motorradunfall und wurde ein Jahr vom Militär zurückgestellt. Ich habe also meine Koffer gepackt und bin nach Berlin gezogen, um das gewonnene Jahr etwas unterhaltsamer zu überbrücken, als es in der sachsen-anhaltinischen Provinz möglich war. Der Rest ist Geschichte: Im November ist die Mauer gefallen, meine erste Amtshandlung war, ein Studium an der FU zu beginnen. Das Thema NVA war damit dann auch erledigt. Es stellte sich heraus, dass es in der DDR ja nicht vorgesehen war, vor dem Militärdienst zu studieren und man fand auch keine Lösung. Am Ende des Studiums war ich dann leider zu alt für den Dienst an der Waffe.
Hattest du dich als Kind / Jugendlicher bereits für Fußball interessiert? Hatte dich der 1. FC Magdeburg tangiert oder hattest du damals mehr über den Brocken in Richtung Bundesliga geschielt?
Wir haben alle Bundesliga geschielt. Die Grenze war nur 30 km weg und jeder hatte auf dem Schulhof seinen „Westverein“. Aber wichtig ist ja im Stadion und so hatte ich das Glück, dass mein Vater mich seinerzeit in den Sportpark an der Bode zum Heimspiel von Stahl Thale mitnahm. Wie alle anderen Zwerge auch, erinnere ich mich nicht an mein erstes Spiel, sondern verfolgte mit großen Augen die Halbstarken auf der Gegengerade, die Kassenrollen und Konfettischnipsel warfen und böse Worte sangen. Wenige Jahre später war ich dann groß genug, mich zu ihnen zu gesellen und da war ich dann viele Jahre lang bei Heim- wie Auswärtsspielen. Magdeburg waren für mich die, die gegen uns pilotierte Schiedsrichterentscheidungen brauchten, um als Oberligist getreu den SED-Vorgaben eine Pokalrunde weiter zu kommen.
Manches scheint im Leben vorbestimmt und einem in die Wiege gelegt. Hattest du bereits als Kind das Gefühl, dass dich etwas magisch nach Italien zieht?
Nein. Aber mir war als Kind schon klar, dass ich viel lieber irgendwoanders leben wollte. Natürlich war ich mir der Schwierigkeiten in der Umsetzung bewusst, insofern bin ich den DDR-Oberen durchaus dankbar, dass die Mauer zu meinem 18. Lebensjahr fiel. Ich bin dann auch erstmal viel gereist, von Island bis Neuseeland und habe auch eine Zeit in Schottland gelebt. Das war auch ganz toll und ich hätte auch gern in Schottland bleiben mögen, aber etwas mit besserem Wetter, besserem Essen und schöneren Menschen. So ungefähr erklärt sich Italien. Ich kann und will aber auch nicht ausschließen, dass ich meinen Lebensabend dereinst auf Feuerland oder den Faröer-Inseln verbringe.
Wenn du zurück auf die 1980er blickst. Bei welchen Erinnerungen kommen echte Nostalgie und Wehmut auf?
Braune Bierflaschen, Stadionwurst, filterlose Zigaretten, Karten von der Rolle und Laufbahn vor der Kurve. Nicht völlig zufällig stehen bzw. standen meine Lieblingsstadien in Karlsruhe, Darmstadt und Saarbrücken. Aber für echte Nostalgie fand ich die DDR einfach zu scheiße.
Hattest du auch die Betriebsferienlager besucht? Falls ja, vermute ich, dass diese auch für dich eine grandiose Zeit bedeuteten. Falls nicht, fällt diese Frage kurzerhand weg. Vielleicht warst du ja bei „Rüstzeiten“ der evangelischen Gemeinde oder hast eine bestimmte Klassenfahrt in besonders guter Erinnerung.
Ich habe alle meine Ferien ab dem 7. Lebensjahr in Ferienlagern verbracht, die letzten dann in den beliebten Lagern zum Kirschen- oder Erdbeeren pflücken. Das waren selbstverständlich ganz großartige Angelegenheiten, endlich war man mal für ein paar Wochen von den Eltern weg und die „Erzieher“ waren ja ab 23 Uhr sowieso verlässlich betrunken. Die Anekdoten würden ein eigenes Buch erfordern, aber Wehrlager waren zum Beispiel immer ein Highlight. Wer kann denn sonst von sich behaupten, eine Kalaschnikow mit verbundenen Augen zerlegen und wieder zusammenbauen zu können? Da soll es Menschen gegeben haben, die am Schießstand aus Jux und Dallerei dem Kumpel den Hebel von Einzel- auf Dauerfeuer gestellt zu haben, um sich dann daran zu ergötzen, wie er mit einer Salve mehrere Zielscheiben zersplittern ließ. Oder wie wir uns das Lageressen durch nächtliche Angeltouren aufwerteten. Stundenlange Märsche durch den thüringischen Wald, um in der Dorfkneipe Bier zu besorgen. Epische Schlachten mit dem Druckluft-Nagler in der Polsterfabrik. Geländetouren mit fahrtüchtigen Panzermodellen mit Trabi-Motor in der Dübener Heide. Vielleicht mach ich mal ein Blog zu Ferienlagern auf.
Ich denke, zum italienischen Fußball hattest du in anderen Interviews bereits reichlich erzählt und ich will dich nicht mit der Frage „Was bedeutet Ultra für dich?“ quälen. Was mich gerade beschäftigt im deutschen Fußball ist die Gewissheit, dass man es geschafft hat, die Fußballfans immer mehr zu spalten. Das Rezept von Verband und Behörden „lassen wir einiges mal selbst reinigen“ scheint aufzugehen. Kommt es bei Verein A oder B wieder zu Strafen aufgrund irgendwelcher Zwischenfälle, werden die Diskussionen unter den Fans immer härter. Es scheint immer mehr Zuschauer zu geben, die Pyrotechnik oder andere kritische Aktionen ablehnen. Ganz nach dem Motto „Was dies wieder unserem Verein kosten wird…“ Wo siehst du den deutschen Fußball in - sagen wir mal - 10 oder 15 Jahren? Du hast ja die Möglichkeit, das Ganze mit etwas mehr Abstand zu betrachten.
Es ist immer schwer, Prognosen zum Zustand in 10-15 Jahren abzugeben, ich weiß ja nicht einmal, was ich heute zu Abend esse. Wenn Italien aber eines lehrt, dann dass es keinerlei Sicherheiten gibt: Alles kann verschwinden, auch eine über Jahrzehnte gewachsene, bunte, laute und vielfältige Fankultur. Insofern kann man gar nicht wachsam genug sein, auch oder gerade weil die Verhältnisse für deutsche Stadionfans bei allen berechtigten Problemen ja noch idyllisch sind. Es gibt kein Grundrecht auf Stehplätze und Singen. Wenn ich eine Entwicklung sehe im weltweiten Fußball, dann eine ökonomische. Waren Fußballvereine in den 80ern noch halbprofessionell geführte Veranstaltungen, sorgen explodierende Umsätze für eine extreme Professionalisierung der Strukturen in allen Bereichen. Ich kenne Fußball noch aus Zeiten vor den PayTVs, als er allein im Stadion stattfand und auch nur Leute interessierte, die ins Stadion gingen. Heute hat jeder eine Meinung zum Fußball, auch wenn er das Abseits nicht erklären kann. Diese Menschen werden immer ein Problem mit Fankultur haben; weil sie sich dafür nicht interessieren, weil es ihrer Meinung nach weg kann, weil es scheinbar gefährlich wäre. Umso größer der Fußball als Zirkus und Wirtschaftsmacht wird, umso mehr dieser Menschen wird es geben. Ich werde es hoffentlich noch erleben, wie viel Platz ein milliardenschweres ökonomisches System für eine freie, kreative, unvorhersehbare und sperrige Fankultur lassen kann. Aber meine Ersparnisse würde ich lieber nicht darauf setzen.
Eine Frage habe ich dann doch zum italienischen Fußball. Nur am Rande: 1995 wurde ich im Rahmen eines EC-Spiels in Parma mit anderen Mitreisenden des Landes verwiesen. Seitdem habe ich nie wieder italienischen Boden betreten. Von daher ist der italienische Fußball nicht gerade mein Steckenpferd und ich frage mal ganz basic: Mir imponieren Projekte wie der HFC Falke, der FC United of Manchester und der AFC Wimbledon. Und auch dass Vereine wie Lok Leipzig und Chemie Leipzig von der Kreisliga wieder hoch gebracht wurden, lässt mein Herz frohlocken. Gibt es in Italien ähnliche Projekte? Vereine, die von Fans gegründet / wieder gegründet wurden?
Absolut, „calcio popolare“ ist im Moment das große Ding und diese Bewegung ist auch älter als in anderen europäischen Ländern. Darunter fallen die Vereine, die direkt von den Fans gegründet wurden, wie die „Ardita“ oder der „CS Lebowski“. Daneben gibt es aber auch eine relativ große Zahl an Initiativen von Fanorganisationen, die sich bemühen, per Mitinhaberschaft die Stimme der Fans in einen Fußballverein zu tragen. Auch hierfür gibt es viele Beispiele, wie Taranto, Venezia oder Ancona, wo sich der Club zeitweise vollständig in der Hand seiner Fanorganisation befand. Terracina Calcio wurde von seinen Fans nach dem Konkurs in der untersten Spielklasse wiederbelebt. Hierzu muss man wissen, dass Vereine in Italien praktisch immer Einzelpersonen gehören, eine Mitgliedschaft, wie es das deutsche Vereinsrecht vorsieht, war hier nie ein Thema. Diese relativ junge Bewegung versucht also, in kleinen Schritten sich dem anzunähern, was in Deutschland einmal verbindliches Modell für den Fußball war. Bei aller Begeisterung für den Elan und Enthusiasmus, den diese Fans einbringen, darf man aber nicht übersehen, dass die wirtschaftliche Lage im Moment sehr schwere Auswirkungen auf den italienischen Fußball in allen seinen Schattierungen hat. Die Finanzierungsfrage ist auch bei Fanvereinen das Problem, wenn es darum geht, sich sportlich weiterzuentwickeln.
Als letzte Frage: Wenn ich jetzt spontan am kommenden Samstag nach Italien fliegen würde und dort drei Wochen bleiben möchte. Welche Partien würdest du mir empfehlen? Egal, ob im Norden oder Süden. Ich möchte eine Portion Adrenalin, ich möchte noch alte Stadien sehen, ich wünsche mir Gästefans, ich will aber nicht unbedingt ein blaues Auge bekommen oder von der Polente vertrimmt werden. Was rätst du mir als bezüglich Italien gebranntes Kind?
Ja, diese Frage ist wohl die häufigste, die mir seit einem Jahrzehnt gestellt wird und auf die ich gern mit „Griechenland“ antworte. Aufgrund von Kurvenschließungen, Auf- und Abstiegen, Skandalen, Streiks, Korruptionsaffären oder Pleiten kann man das aber so halbwegs präzise nur für das kommende Wochenende sagen. Im Moment werden wieder jede Menge Auswärtsfahrten verboten oder Stadien gleich ganz geschlossen. Das passiert, wie letzte Woche Brescia, auch gern mal 48 Stunden vor dem Anpfiff. Insofern ohne Aussicht auf ein Mindesthaltbarkeitsdatum: Hellas ist rein supporttechnisch immer eine Reise wert, niemand kann so singen wie die. Mit der Salernitana kann man auch nicht viel falsch machen; wenn die ins Stadion dürfen, verbreiten sie eigentlich immer gute Stimmung (sollten sie diese Saison absteigen, dann muss das aber nicht so bleiben). Die gute Nachricht ist aber, dass Du Dir keine Sorgen machen musst, wenn Du alte Stadien sehen willst. Mit Ausnahme von Sassuolo, Juve und Udinese sind die alle alt und baufällig.
Kai, vielen Dank für dieses Interview und weiterhin kreatives Schaffen!
Fotos: Screenshot der Webseite, Kai Tippmann, Arne Amberg, Karsten Höft