Woran erkennt man, dass man langsam aber sicher ein alter Fußballsack wird? Langsam aber sicher zum alten Eisen gehört. Ein Fußballsack, der von den alten Zeiten schwärmt, die länger zurückliegen als das Geburtsdatum der Jung-Ultras in den Kurven? Ganz einfach: Wenn einem Dauergetrommel und Dauergesang mächtig auf die Nüsse gehen. Wenn man richtig abgetörnt ist, weil ein Support völlig oder zumindest in großen Teilen spielunabhängig durchgezogen wird. Bumm, bumm, bumm, Vorwärts! Bumm, bumm, bumm, Chemie! Bumm, bumm, bumm, Ultras! Das ist jetzt nur ein Beispiel und wirklich übertragbar auf einige aktive Fanszenen. Mit flotten Schritten ging es am gestrigen Nachmittag gen Jahn-Sportpark. Die (leider) parallel zu erledigende Arbeit musste für drei Stunden von einer Person des Vertrauens übernommen werden. Also nichts wie rein in die S-Bahn und nischt wie hin zum Regionalliga-Duell BFC Dynamo vs. BSG Chemie Leipzig. Etliche Jahre lang wurde dem Wiedersehen entgegengefiebert. Meine Güte, was waren das für erhitze Aufeinandertreffen in den 90ern! Und sicherlich auch in der Zeit zuvor, doch spreche ich mal nur von der Ära, die ich selbst miterlebt hatte. Die gestrige Ansetzung wurde fett im Kalender markiert. Arge Bauchschmerzen, als ein Job in die Quere kam. Lösung gesucht, Lösung gefunden. Und am Ende? Fast das Gefühl: Das hätte ich mir klemmen können.
BFC Dynamo vs. Chemie Leipzig: Weinroter Sieg, trübe Gedanken und ein Leutzscher Ausreiseantrag…
HotKlingt hart, wohl wahr. Am Ende aber blieb das persönliche Gefühl: Das war´s. Die geilen Zeiten sind vorbei. Im Gästeblock: Wahrlich nach heutigen Maßstäben ein guter Auftritt. 1.200 Fans in der vierten Liga von A nach B zu bewegen - Respekt! Sonderzug organisieren, alle am gleichen Strang ziehen - nicht schlecht. Und dann aber: Irgendwie doch nur Support nach einem bestimmten Schema XY. Durchgezogen von der ersten bis zur letzten Minute. Im Heimbereich: Hm ja, wie soll man es ausdrücken? Viele sind wirklich älter und somit auch gelassener geworden. Mit Support ist da eben nicht mehr so. Und der aktive Kern um die Ultras BFC und Fraktion H ist nun mal zu klein, um die gesamte Gegengerade zum Rocken zu bringen. Und was noch bemerkenswerter ist: Im Vergleich zu früheren legendären Begegnungen ist (im Vergleich zu früher) kaum noch Emotion / Hitze drin. Man hat sich nach so vielen Jahren einfach nichts mehr zu sagen. Vor 20 Jahren hätte der halbe Block am Zaun gehangen und wäre bei jeder Grätsche auf dem Rasen mitgegangen. Gestern wurde dann doch weitaus ruhiger das Spielgeschehen verfolgt. Von der Brisanz zwischen (Ost-)Berlin und Sachsen war kaum etwas zu spüren.
Apropos Sachsen: Bemerkenswert war auch ein Spruchband im Gästebereich. „Leutzsch spielt nicht für Sachsen!“ Was soll uns das sagen? Schämt man sich inzwischen dafür, in einer sächsischen Stadt beheimatet zu sein? Wenn dem so ist, kann die Schose gleich beendet werden. Den Verein um- / aussiedeln? Doch vorhin? Nach Thüringen? Nach Sachsen-Anhalt? Oder gar in den goldenen Westen? Oder besser noch: Ausgliedern aus Sachsen! Die Volksrepublik „Leutzscher Forst“ gründen!? Auf was soll sich überhaupt noch berufen werden? Allein auf die DDR-Vergangenheit? Auch anrüchig. Auf den Leipziger Stadtteil Leutzsch? Der liegt nun mal in Sachsen. Oder einfach nur auf die eigene Ultra-Kultur? Einfach feiern, sich selber feiern, einfach durchziehen. Fertig! Vorwärts, Ultras!
Stress mit den Verbänden. Stress mit der DFL. Theater mit der Polizei. Probleme mit den Behörden. Offene Fragen zur eigenen Identität. Was zählt überhaupt beim Fußball? Was ist die Essenz? Das rein Sportliche, bei dem es sich wohl weißlich vor allem um die lieben Moneten geht?! Oder doch: Der Rückzugsraum, die Freiheit in den eigenen Kurven?! Wenn dort allerdings von sich selbst heraus alles auf Drill angelegt ist und man voll mitziehen muss, schreckt das die „Alten“ und auch mitunter den „Nachwuchs“ ab. Häufig habe ich mir die Frage gestellt. Liegt es allein daran, dass ich nun mit Mitte 40 wirklich ein alter Sack werde? Ein typischer Generationskonflikt? Aber anders gefragt: Hätte mich als 20-jähriger das Gestrige richtig „angemacht“? Schwer zu sagen. Ich liebte das gewisse Chaos in den Blöcken. Die wirkliche (gefühlte) Freiheit. Der eine ließ es laufen, der andere pöbelte, der andere sang, der andere feierte einfach nur ab. Und wichtig: Schlachtrufe, Gesänge kamen aus der Emotion heraus. Je nach Spielsituation explodierte es plötzlich, wurde es brachial laut, kam der Hass auf, brach die Freude ungehemmt heraus.
Für solche Stimmungsexplosionen war auch der BFC Dynamo berüchtigt. Was gab es für brachiale Torjubel. Für Dauergesang wurden die Ostberliner in Weinrot noch nie berühmt, doch für emotionale Jubelorgien schon. Doch selbst bei den drei Toren gegen Chemie Leipzig klang es gestern nicht mehr so wie vor einigen Jahren. Wer springt noch vor Freude auf den Zaun oder hüpft wie ein Rumpelstielzchen? Klar, es wurde sich gefreut und auch das „Chemie-Schweine raus!“ ertönte, doch nach den Toren wurde im Zuge des eingespielten Jingles (nennt man das so?) lieber selig das „Scheiß Union…“ gesungen. Allein der Fakt, dass inzwischen überhaupt etwas eingespielt wird, ist schon der Hammer. Beim BFC Dynamo! Ich gebe gern zu, es war mir bei den Partien zuvor gar nicht so sehr aufgefallen - gestern fiel ich jedoch „glatt ins Essen“.
Zugegeben, nun wurde hier nicht viel Neues geschrieben. Allerdings wurde es gestern so etwas wie ein Schlüsselspiel. BFC gegen Chemie. Persönlich geht kaum mehr. Was für eine gruselige Reise nach Leutzsch im Herbst 1994. Nicht, dass ich mir wirbelnde Polizeiknüppel, entleerte Feuerlöscher, fliegende Steine, ein gebrülltes „Schießt doch!“, eine Leutzscher Faust im Gesicht in 1:5-Situation zurückwünsche - doch diese Emotionen, ja, diese vermisse ich zunehmend. Diese Anarchie in den Kurven. Heute indes wird alles reglementiert - von außen und von innen. Alles zerredet und diskutiert. Alles in Frage gestellt. Aber okay, nichts anderes tu ich gerade auch nicht. Ich - der alte Fußballsack.
Wenn gleich ich arg ernüchtert war, so war wahrlich nicht alles schlecht am gestrigen Nachmittag. Und doch, ein Punkt muss noch angesprochen werden. Ich hätte - ja sagen wir es ruhig so - meinen Arsch drauf verwettet, dass eines Tages beim Wiedersehen der BFCer und der Chemiker - egal in welcher Liga - mindestens 5.000 Fußballfreunde auf die Ränge strömen werden. Am Ende waren es gestern 3.215 Zuschauer im Jahn-Sportpark. Davon abgezogen die rund 1.200 Gästefans, da bleibt abseits des harten Kerns nicht allzu viel. Vielleicht sind es all die oben angesprochenen Punkte, welche verhindert haben, dass die Bude mal richtig voll wird. Einige aus dem erweiterten Umfeld hatten abgewunken. Ach, was soll ich da? Ein guter Freund verließ am gestrigen Nachmittag nach der Pause sogar das Stadion. Und das lag nicht am Sportlichen. Es ist einfach generell etwas verloren gegangen. Und dieses „Etwas“ dürfte wohl so schnell nicht wieder zurückkehren.
Nun aber zu den gestrigen Fakten. 800 Leutzscher waren mit dem bereits erwähnten Sonderzug in die Hauptstadt gedüst, hinzu kamen zirka 500 weitere Fans in Grün-Weiß, die auf eigenem Wege angereist waren. Und ja, wahrscheinlich wäre es in der siebten Minute dann doch zu einer massiven Zaunerklimmung gekommen, wenn Daniel Heinze den fälligen Elfer reingemacht hatte. Mit einer Hand konnte BFC-Keeper Bernhard Hendl - von vielen auch „Goldhähnchen / Goldbroiler“ genannt - den Ball abwehren. In der ersten halben Stunde spielten die Gäste aus Leutzsch forsch auf, in der Folgezeit nahmen dann die Berliner mehr und mehr die Zügel in die Hand.
Blut floss noch vor der Pause, nach einem Zusammenstoß war das Trikot von Chemie-Kapitän Stefan Karau recht bald rot befleckt und musste kurzerhand ausgetauscht werden. Mit einem Verband spielte er dann weiter. Respekt! Ähnlich sah es wenige Kilometer weiter im Velodrom aus, wo bei der Bahn-EM nach Stürzen auch meist sofort wieder aufgestanden und weitergefahren wurde. Einsatz bis an die Schmerzgrenze - und kein minutenlanges Herumwälzen bei einem leichten Stößchen.
Der erste Treffer des Tages fiel schließlich in der 38. Minute. Der prima angespielte Joey Breitfeld überlupfte Chemie-Torwart Julien Latendresse-Levesque - zack, 1:0 für den BFC Dynamo. Nach dem Pausentee spielten die Gäste wieder prima mit, doch Schluss mit lustig war dann in der 55. und 62. Minute. Zuerst war es Steinborn, der einschieben konnte, sieben Minute später brachte David Zeferino Malembana aus erheblicher Distanz einen Freistoß unter. 3:0 für die Berliner - der Drops war gelutscht. Parallel zu den letzten beiden Toren sorgte der aktive Kern der weinroten Anhängerschaft für einen optischen Akzent. Reichlich Papierschlangen sausten durch die Luft. Inmitten des Gewusels hing über dem FH-Banner ein quadratisches Stück Stoff, auf dem Schwarz auf Weiß zu lesen war: „Chemieschweine raus!“ Kurz noch einmal Kopfkino und die Gedanken zurück in den heißen Herbst 1994. Wenig später saß ich wieder am eigentlichen Arbeitsplatz - und das zurückliegende Spiel fühlte sich ein wenig surreal an. Das war es nun gewesen? BFC gegen Chemie …
Benutzer-Kommentare
Beste Grüße
Marco
Sind wir mal ehrlich. Eine kreative Kurve mit einer großen Liedauswahl und eben jene Dauergesänge, welche in einem inneren und äußeren Rausch enden, dass ist Chemie. Die Dankbarkeit, dass wir endlich wieder solche Reisen machen können und der Zusammenhalt mit der Mannschaft führt von ganz allein dazu. Glauben Sie nicht? Kommen Sie nach Leutzsch und singen sie mal mit
Grün und weiß ein Leben lang. Niemand wie wir!
vielen Dank für all die Kommentare auf Facebook und hier direkt auf der Seite. Es war einiges dabei. Viel Zuspruch, viel Kritik, aber halt auch ein paar weniger erfreuliche Kommentare.
Interessant: Obwohl zu großen Teilen die Stimmung auf der Heimseite kritisiert wurde, kam vor allem aus der chemischen Ecke harsche Kritik bis unter die Gürtellinie. Das ist mir völlig unverständlich, da im Text ganz klar geschrieben steht, dass der Auftritt unter dem Strich bemerkenswert war. Allein die generelle Form des Supports ist eher nicht mein Ding, da ich persönlich komplett den an der Situation / auf das Spiel bezogenen Support mehr bevorzuge. Aber sei es drum, es ist es nicht wert, hier das noch weiter auszudiskutieren.
Aber nun doch zu einem einzelnen Kommentar - und zwar zu diesem:
Zitat:
"HAUSVERBOT FÜR SIE
Hallo Herr Bertram, bitte besuchen sie keine Spiele mehr von uns. Weder Zuhause in Leutzsch, noch an anderen Orten. Vermutlich stößt ihn die Tatsache auf ,das trotz Niederlage, Chemie den Sportpark gerockt hat. Oder liegt es daran, das sich die Fussballfibel von Chemie besser verkauft als ihr zwei, drei oder wie viele auch immer Sie als „Fan“ geschrieben haben? Für ihren Rückblick in die frühen 90ziger, habe ich nur Mitleid. ..."
Das ist an Lächerlichkeit nicht mehr zu überbieten. Genau das, was von Fans immer wieder zurecht kritisiert wird, soll nun auf andere angewandt werden? Einfach mal so?! Kritische Worte, eine Meinung vertreten, die anderen nicht passt - schwupps, Hausverbot, persönlich bedrohen, den Zutritt zum Stadion verhindern. Und dann?
In letzter Zeit kam es zu einigen Zwischenfällen. Nicht nur in Zwickau. Auch an anderen Orten. Es wurden gezielt Gerüchte, die erstunken und erlogen sind, verbreitet. Es gab persönliche Drohungen und auch per Mail diverse Winks mit dem Zaunpfahl.
Für Kritik bin ich - sind wir alle bei turus - stets offen. Man kann mich anschreiben, mich ansprechen, sich beim Fußball zum Gespräch verabreden (wenn es die Zeit zulässt). Alles andere ist dagegen nur ein Witz.
Noch lächerlicher wurde es allerdings im Kommentar, als versucht wurde, einen Zusammenhang zwischen den Fußballfibeln der BSG Chemie und von Hansa & BFC herzustellen. Fein, dass sich die von Chemie bislang am besten verkaufte. Das freut mich für den Autor und nicht zuletzt für den Herausgeber und den Verleger. Zum einen, weil ich sie schätze, zum anderen, weil wir bei dieser Serie allesamt in einem Boot sitzen. Und was es heißt, auf stürmischer See in einem Boot zu sitzen - da spreche ich aus eigener Erfahrung.
Und last but not least, Mitleid für die Rückblicke in die 90er? Muss der Kommentator nicht haben. Es war eine großartige Zeit. Was ja nicht nur den Fußball, sondern u.a. auch das Nachtleben in Berlin und anderswo betraf. Im Allgemeinen ging es lockerer und entspannter und unverkrampfter zur Sache als in der Gegenwart, und okay, beim Fußball ging es auch mal wilder zu. Der Tod vom M. Polley im Herbst 1990 ist erschütternd. Genauso wie bei anderen Zwischenfällen in jener Zeit, als bei überforderten Polizisten der Finger am Abzug der Knarre und die Hand am Knüppelhalfter allzu locker saßen. Allerdings kann es nicht der Grund sein, auf die gesamten 90er mit Grauen zurückzublicken. Aber das muss jetzt nicht weiter breit getreten werden.
Um nur ganz kurz zum BFC zurückzukommen. Für mich völlig unerklärlich war, dass gegen Chemie auf den Rängen nichts abgerufen werden konnte. Wie es gehen kann, zeigte sich zuletzt stets bei den Berliner Pokalsfinals und im DFB-Pokal. Ich weiß es nicht, vermute aber, dass für die Jüngeren ein Spiel gegen Chemie einfach nichts besonderes ist und die Alten eventuell zum Teil nur abwinken und meinen: Das ist eh nicht mehr die BSG Chemie von einst, und schon gar nicht der FC Sachsen, gegen den es Mitte der 90er so hitzig zur Sache ging. Aber wie gesagt, die konkrete Antwort hat wohl niemand.
Nun heißt es jedoch, die Sache gedanklich abhaken, sich auf die kommenden Aufgaben konzentrieren - sprich: Weiter im Text ...
Mit besten Grüßen
Marco (turus.net)
Ich stehe sonst nicht im Block sondern erfreue mich am "Radio" Ultras und schreie wüst rum wenn mir was nicht passt und da bin ich nicht der Einzige. Der AKS hat immer noch geilen "Old-School-Support" zu bieten, gern vorbeikommen wenn man das mal erleben will (übrigens: absolut Panne dem Autor hier ein Hausverbot für den AKS auszusprechen).
Bezüglich BFC: das geht mich nichts an. Ich war erstaunt, dass so wenig Besucher da waren. Woran das liegt, wird im eigenen Forum genug besprochen. Man wünscht ja jedem fannahen Verein, dass er die Kurve bekommt aber wenn man nur in die Vergangenheit schaut wird das auch nichts. Ich bin Chemiker, ich weiß wohin das führt.
Zum Spruchband: Seit Ewigkeiten gibt es bei den Ultras eine Fahne auf der steht: Leutzsch spielt nicht für Leipzig. Ich bin froh über dieses Selbstverständnis. Der FC Sachsen wurde als die Hoffnung Mitteldeutschlands ausgerufen, wo das endete hat man gesehen. Ich wünsche mir nicht, dass sich Chemie wieder vor einen Karren spannen lässt. RB soll von mir aus denken sie repräsentieren Leipzig, Lok soll dem nacheifern aber Chemie spielt in Leutzsch und nur für sich selbst. Damit fährt man bis jetzt ganz gut und vermeidet hoffentlich Höhenflüge die in Bauchlandungen münden.
Als Anfang der 80er geborener Thüringer ist mir im Übrigen dieses Sachsen/Preußen-Ding völlig wumpe. Das kann man jemanden mit einer Sozialisation in der BRD/Europäischen Union m. M. n. auch nicht mehr nahebringen.