Der Winter brach ein, und auch im Pott legte sich eine hübsche weiße Schneeschicht auf die Landschaft, die Straßen und auch die Fußballplätze des Reviers. So wurde kurzerhand die Partie, die eigentlich vorgesehen war, aufgrund des Schneefalls abgesagt. Eine Alternative wurde gesucht - und gefunden. Auf nach Dortmund! Nach über 20 Jahren würden wir zu zweit als Zuschauer auf die Südtribüne wiederkehren. Damals Anfang und Mitte der 1990er Jahre standen wir einige Male im Block 13 und sogen die Stimmung auf. Was für eine grandiose Zeit! Der BVB befand sich im Aufwind, die Stimmung auf der Südtribüne war sensationell. Welch ein Bierbecher-Regen, als Stéphane Chapuisat, Michael Zorc oder Flemming Povlsen die Tore schossen! Nach dem Torjubel fand man sich einige Stufen tiefer wieder. Die Enge war grenzwertig. Damals an zentraler Stelle auf der Südtribüne zu stehen - das war nichts für Fußballfreunde mit Platzangst. Völlig aus Kalten wurde auch schon mal neben einem eine Fackel angerissen. Das wurde damals bekanntlich völlig locker gehandhabt. Wer hatte, der machte. „Heja BVB, heja BVB!“ Ich war nie ein Dortmund-Fan, doch die damaligen Spiele (manche Partien wurden auch von der Nordtribüne aus gesehen) gegen Hamburg, Nürnberg, Leverkusen, Celtic und Saragossa haben sich fest eingebrannt im Gedächtnis. Die Erinnerungen daran: Auf der einen Seite denkt man, scheiße, ist das echt schon über zwei Jahrzehnte her? Auf der anderen Seite wirkt das Ganze, als stammen die Erinnerungen aus einem anderen Leben. Wie sehr hat sich die Perspektive auf das Ganze geändert?! Und wie sehr hat sich der Profifußball als solches geändert?! Die Frage war nun, wie fühlt es sich an, wenn ein Bundesligaspiel im Jahr 2017 von der Südtribüne aus geschaut wird?
Borussia Dortmund vs. Werder Bremen: Ins Aus kullernde Bälle - ein Blick von der Südtribüne aus
An eine Karte zu kommen, ist in der Tat nicht so einfach. Da wir spontan nach Dortmund fuhren und uns zirka zwei Stunden vor Anpfiff am Stadion einfanden, musste halt geschaut werden, was ging. Notfalls halt auf die Gästeseite oder in den sauren Apfel beißen und sich für satte Kohle auf die West- oder Osttribüne setzen. Die Fahrt mit der U-Bahn vom Hauptbahnhof aus fühlte sich an wie früher, zumal die Wagen ja noch die gleichen wie damals zu Beginn der 90er sind. Davon ganz abgesehen wurde seit damals noch das eine oder andere Spiel besucht, nur halt nicht auf der Südtribüne. Gegen RB Leipzig stand ich im Innenraum - und es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich der Blickwinkel ist. Nicht nur, was das Geschehen auf dem Rasen betrifft. Das Gesamtpaket ist ein völlig anderes. Hin und wieder als Fotograf / Schreiberling die Seiten zu wechseln, ist sehr nützlich.
Schneeflocken fielen vom grauen Himmel, am Zugang zur U-Bahn standen die ersten Ticketverkäufer. Die meisten tun so, als hätten sie rein zufällig die eine oder andere Karte über. Dass es Profis sind, ist jedoch auf dem zweiten Blick erkennbar. Spätestens, wenn derjenige zum Smartphone greift, die Finger routiniert gleiten lässt und meint, dass alles kein Problem sei. Welche Tribüne? Alles machbar. Hat halt alles nur seinen Preis! Vor dem Gästeeingang wollte ein Verkäufer mal eben 60 Glocken für ein 35-Euro-Ticket haben. Ja geht´s noch? Im Fanshop konnten ganz regulär noch Sitzplatztickets für 45 Euro erworben werden. Als wir das dem Wucherer mitteilten, meinte er nur, was stünden wir noch hier? Ein anderer bot noch zwei Stehplatzkarten für den Gästeblock an. Zum einen sahen die Tickets arg zerfleddert aus, zum anderen tat der Verkäufer mit einem schlichten grüne Schal zwar so, als sei er ein ganz normaler Fan, der mal eben die überschüssigen Karten loswerden wollte, doch der Blickwechsel zum Wucherer machte klar: Die steckten unter einer Decke.
Ab zum Eingang zur Südtribüne. Dort schaute es anders aus. Eine Gruppe polnischer Fußballfreunde hatte wirklich privat zwei Stehplatztickets für die Südtribüne über. Was sie dafür haben wollten? Na, ganz einfach den Preis, der aufgedruckt war. Sauber Jungs! Sekunden später hielten wir die Karten für den Block 83 in den Händen. Oben. Ganz oben. Besser geht es nicht. Die Blöcke 12 und 13 waren tabu. Klar, kann man sich da auch reinstellen, doch gehört sich das einfach nicht. Uns war es mehr als recht, das Treiben vom obersten Geländer aus beobachten zu können. Der Blick ist sensationell. Der große Unterschied: Während man sich von einem ganz oben befindlichen Sitzplatz aus völlig abseits gestellt fühlen kann - ja, es kann die Sinnfrage aufkommen, wenn man im Winter oben in einer Ecke sitzt und das Treiben auf dem fernen Rasen beobachtet -, fühlt man sich auf der Südtribüne selbst direkt unter dem Dach mitten drin. Die Mischung stimmt. Von unten betrachtet könnte man der Meinung sein, dass in den äußeren Bereichen der Südtribüne das gleiche Gefühl wie auf einem far-away-Sitz aufkommen kann. Doch nein, man fühlt sich dichter dran als zuvor vermutet. Klar, der Rasen wirkt von ganz oben recht winzig, doch das Geschehen in den Blöcken 12 und 13 erscheint gar nicht so weit weg.
Bei den Klassikern und melodischen Gesängen stimmen auch ganz oben die einen oder anderen BVB-Fans mit Inbrunst ein. Bei 25.000 Fans auf einer einzigen Stehplatztribüne kann nicht mit Brachialität das Gesamtbild eines Magdeburger Block U, eines Dresdener K-Blocks oder einer Rostocker Südtribüne geschaffen werden - dafür ist das Klientel einfach zu bunt gemischt -, doch in Anbetracht der Umstände war ich wirklich überrascht. Positiv überrascht.
Sehr fern wirkt natürlich der Gästebereich. Dort wurde bereits 15 Minuten vor Anpfiff mit Hilfe der mitgebrachten Fahnen ein Sichtschutz gebildet. Bis Anpfiff wurden die Fahnen im unteren Bereich des Gästeblocks hochgehalten. Dann kam das, was kommen musste. Beim Einlaufen der Mannschaften boten die Werder-Fabs eine große Pyro-Show. Pfiffe von den Rängen blieben weitgehend aus. Bemerkenswert war die Durchsage des Stadionsprechers. Wer verletzt wurde, sollte sich umgehend bei den Sanitätern melden. Vielleicht sollte es einfach furchteinflößender wirken als die simple Durchsage, dass das Abbrennen von Pyrotechnik nicht erlaubt sei. Sei es, wie es sei, die Werder-Fans im Stehblock rockten 90 Minuten durch und gaben ein überaus geschlossenes Bild ab. Ganz klar, für mich die zweite Überraschung des Tages.
Die erbrachte Leistung ihrer Mannschaft trug natürlich dazu bei, dass der Support auf gutem Niveau war. Der Vorletzte zeigte in Dortmund kein übles Spiel. Beim BVB war indes der Wurm drin. Und was für einer! Kein Wunder, dass neun Spiele in Folge (Champions League inklusive) nicht mehr gewonnen wurde. Den letzten Sieg gab es im DFB-Pokal auswärts beim 1. FC Magdeburg zu feiern. Das ist schon eine krasse Kiste, wenn man bedenkt, wie man die Dortmunder zu Beginn der laufenden Saison eingeschätzt hatte. Dass der BVB im Europapokal in der Europa League weiter machen darf, grenzt an ein Wunder. Zwei magere Pünktchen wurden in der CL-Gruppenphase eingefahren. Es fand sich jedoch eine Mannschaft, die noch schlechter war, und somit kann nun rein theoretisch noch die Europa League gewonnen werden. Schön für die BVB-Fans, allerdings merkt man mal wieder, was für Humbug diese Regelung ist.
Es ist immer wieder zu hören, dass eine Mannschaft niemals gegen einen Trainer spielen würde. Schon gar nicht eine Profimannschaft. Hm ja, die ganze Mannschaft vielleicht nicht. Einzelne Spieler leisteten sich jedoch enorme Patzer. Was für individuelle Fehler gab es mitunter am Samstag zu sehen! Ich fiel vom Glauben ab. Unvergessen, als mit dem Ball unbedrängt ins Seitenaus gelaufen wurde. Na hoppla, den Ball nicht mehr bekommen. Gleiches Spiel einmal an der Torauslinie. Meine Güte! Fuß drauf, Ball stoppen, und dann mal schauen, was aus der Situation gemacht werden kann. Ich will keine Namen nennen. Kann ich auch gar nicht. Zu weit weg war das Spielfeld. Ich erkannte quasi nur das Spiel als Ganzes - und das war auf Dortmunder Seite erschreckend schwach.
Der zwischenzeitliche Ausgleich von Aubameyang zum 1:1 nach knapp einer Stunde kam überraschend. Der 2:1-Siegtreffer von Gebre Selassie in der 65. Minute war völlig verdient. Die drei Punkte hatte sich der SV Werder Bremen wahrlich verdient. Ein echtes Aufbäumen der Dortmunder war in den Schlussminuten nicht erkennbar. Kein Wunder also, dass sich bereits zehn Minuten vor Ende zahlreiche Sitzplätze leer wurden. Unterstützung von der Südtribüne gab es bis zum Schluss. Erst nach Abpfiff ertönte ein gellendes Pfeifkonzert. Langsam trotteten die BVB-Spieler in Richtung Südtribüne und stellten sich im gehörigen Abstand in einer Reihe auf. Ihr pfeift? Die Spieler machten kehrt und schlurften gen Kabine. Ein trauriger Anblick. Entweder oder. Gleich in die Katakomben - oder sich gerade machen und trotz der gellenden Pfiffe zu den Fans gehen. Was soll schon passieren? Dass es das letzte Spiel von Trainer Peter Bosz war, war klar wie Klosbrühe. Wer am nächsten Tag als neuer Trainer präsentiert wurde, erstaunte dann doch ein wenig. Kaum aus Köln weg, nun in Dortmund das Zepter in der Hand. Man darf gespannt sein, wie es unter Peter Stöger die kommenden Wochen weiter geht. Und sollte in der Europa League der Celtic FC zu Gast sein, stehen wir vielleicht wieder auf der Südtribüne. Allein der alten Zeiten wegen.
Fotos: Marco Bertram
- Signal Iduna Park