Voilà, was gibt es schöneres, als einen Tag nach Nikolaus knackige Schwarzwurzeln und verflüssigten Pfefferkuchen kredenzt zu bekommen? Und das ohne großes Betteln, sondern unaufgefordert frei Haus! Einfach Mal so. Knüppel aus dem Sack und Pfeffi frei für alle! Es war eine Wucht! So geschehen am 07. Dezember 2008 in Berlin-Charlottenburg. Weinrot war zu Gast bei Lila-Weiß - und Team Grün sah sich gezwungen mit von der Partie zu sein. Weihnachtliches Stelldichein im Mommsenstadion? Die Ossis zu Gast im gutbürgerlichen Charlottenburg? Da wollten auch die polizeilichen Einsatzkräfte mit dabei sein! Schließlich kam es bereits in den Jahren zuvor zu dem einen oder anderen gemütlichen Zusammensein, als der 1. FC Union Berlin einige Male mit voller Kapelle zu Tennis Borussia Berlin anreiste. Das eine Mal wurden auf der alten Haupttribüne sogar rote Freudenfeier angezündet. Und auch nicht ohne war im Rahmen des DFB-Pokals der Auftritt des FC Energie Cottbus am 09. August 2008, als es zwischen den Lausitzern und der Polizei zur intensiven Kontaktaufnahme kam.
TeBe vs. BFC: Knüppel aus dem Sack und gratis Pfeffi zum Nikolaus 2008
HotAuch wenn es seit 1994 etliche Aufeinandertreffen zwischen Tennis Borussia Berlin und dem BFC Dynamo in der Regionalliga Nordost und der NOFB-Oberliga Nord gab, so war auch 2005 noch eine erhöhte Betriebstemperatur zu spüren. So kann ich mich erinnern, dass es im Februar jenes Jahres bei einem Abendspiel im Berliner Mommsenstadion zu einem Schlagabtausch zwischen weinroten Sportkameraden und einer weiß behelmten Delegation aus Ruhleben kam. Ich traute meinen Augen kaum, als direkt neben mir ein Beamter zu Boden gerissen wurde und ein BFCer à la Millwall (Stichwort BBC-Reportage) eine derbe Fratze und sich an der Zunge zog. Das gebotene Szenario war ein wenig verstörend, letztendlich beruhigten sich beide Seiten und das Spiel nahm seinen ganz normalen Lauf.
Nicht ganz so normal verlief indes der Nachmittag des 07. Dezember 2008. Nach dem Vorfall beim Auswärtsspiel 2005 gab es zwei, drei weitere Auftritte des BFC Dynamo im Mommsenstadion, einen direkten Bezug zum Spiel von Februar 2005 gab es also nicht. Vielmehr hatten die jüngeren Auftritte der Unioner und der Cottbuser bei TeBe für die Erkenntnis gesorgt, dass sich Team Grün bei den ausufernden Partys nicht mehr auf der Nase herumtanzen wollte. Freidrehende Ost-Berliner im alten gemütlichen West-Berlin? Damit musste endlich Schluss sein! Da kam ein Nachmittagsspiel mit einsetzender Dämmerung, bei dem massig weinrote Gästefans anreisten, gerade recht. Spitzenspiel in der Nordstaffel der NOFV-Oberliga. Tennis Borussia Berlin hatte einen „goldenen Herbst“, und es war die letzte Möglichkeit, noch die theoretische Chance zu wahren, an den auf und davon ziehenden Charlottenburgern dranzubleiben. Die Ausgangslage: TeBe hatte vor dem 15. Spieltag bereits 40 Punkte auf dem Konto, der BFC Dynamo befand sich mit 29 Punkten auf Rang zwei in Lauerstellung.
Alles oder nichts! Alle ins Mommsenstadion! 2.047 Zuschauer hatten sich im weiten Rund eingefunden, rund 1.200 von ihnen trugen Weinrot und standen in der Gästekurve. Die TeBe-Fans fanden sich an jenem Abend allesamt auf der Haupttribüne ein. Auf dieser zeigten sie zu Beginn auf dem Oberrang eine kleine Choreo. Ein Dankeschön an TeBe-Trainer Thomas Herbst, der damals für den „Goldenen Herbst“ gesorgt hatte. Einen schmucken Anblick bot der gut gefüllte Gästeblock, in dem hunderte Plastikfähnchen geschwenkt und ein lautstarkes „Ein Schuss, ein Tor, Dynamo…“ angestimmt wurden. „Hurra, hurra, der BFC ist da!“ Fans in weißen Malerkombis präsentierten auf dem Zaun ein Spruchband. Die Laune war bestens, von Aggressivität war keine Spur. Aber gut, das legendäre „Lila-weiße Westberliner Scheiße!“ wurde selbstverständlich angestimmt. Den gleichen Klassiker sangen auch die Union-Fans, als sie einst zu tausenden die Gegengerade des Mommsenstadions bevölkerten. TeBe gegen Union - das war in den 1990ern und zu Beginn des Jahrtausends aufgrund der Ungereimtheiten im Sommer 1993 wirklich Hass pur. TeBe gegen BFC Dynamo - das war nicht ganz so schlimm.
Da es allerdings sportlich um alles oder nichts ging, fiel am 07. Dezember 2008 der Torjubel besonders intensiv aus, nachdem Rene Zelm nach einer Viertelstunde das 1:0 für Weinrot besorgen konnte. Mein lieber Herr Gesangsverein! Was für ein Freudentaumel! „Dynamo! Dynamo!“, hallte es bis zum Funkturm. Nur acht Minuten später konnte Ertan Turan für Tennis Borussia Berlin ausgleichen. Mit einem 1:1 ging es zum Pausentee, im Gästeblock wurden Pläuschchen gehalten, auf der Haupttribüne wurden ein großes „T“ und ein großes „B“ aufgestellt. Nichts, wirklich nichts deutete in jenem Moment darauf hin, dass es an diesem Adventsnachmittag noch richtig Bambule geben würde. Ich hatte im Fußball bereits einiges erlebt, und die Antennen spürten eigentlich bereits die feinsten Signale auf.
Ein merkwürdiges Signal wurde etwas später empfangen. Zwei, drei Personen kletterten auf den Zaun, völlig sinnfrei wurden Böller auf die Tartanbahn geworfen. Ein Grund dafür war nicht erkennbar. Es gab keine Provokationen von der Heimseite, und auf dem Spielfeld konnte auch keine Situation bemerkt werden, die ein kollektives Ausrasten hätte hervorrufen können. Zwei Böller aus dem Nichts. Die eigenen Ordner zogen die Personen vom Zaun und wollten die Angelegenheit klären. Eigentlich war das Ganze schon wieder vergessen, als plötzlich die Staatsmacht wie aus dem Nichts quasi „im Hausflur“ stand. Geklingelt hatte niemand. Gerufen hatte sie auch keiner. Bei der Party dabei sein wollten die Beamten wohl trotzdem. Ich stand im hinteren Bereich des Gästeblocks, als die weiß Behelmten sich zu eben diesen vorarbeiteten. Mit den Reizgaspullen ging es Schritt für Schritt vorwärts. Warum? Keine Ahnung. Das war niemanden im Block klar.
Ich glaubte kaum, was ich sah. Automatisch schaltete ich die kleine Digitalkamera an und drückte das rote Knöpfchen. Im Frühjahr 2005 hatte ich diese erworben, und in den ersten Jahren machte man sich keine Platte und ließ die Kamera in den Fanblöcken einfach laufen. „Na wat denn, na wat denn, na wat denn wat denn wat denn?“, riefen die überraschten BFC-Fans den vorrückenden Einsatzkräften entgegen. Bis am hinteren Ende der Gästekurve realisiert wurde, was überhaupt vor sich ging, dauerte es ein Weilchen. Da tränten den Ersten bereits die Augen. Die erste Runde Pfeffi wurde verteilt. Die mitgebrachten Pullen waren voll, und am Advent wollte man nicht geizen.
„Dynamo! Dynamo! Dynamo!“, ertönte es lautstark. Einzelne Fans versuchten zu beschwichtigen und breiteten die Arme aus. Nur nicht provozieren lassen! Wer vom Reizgas getroffen wurde, drehte sich weg. Einer duckte sich und brachte seine Frau in Sicherheit. Die Situation wurde unübersichtlich. Manche hatten das Ganze bereits abgehakt und drehten ihre Köpfe wieder in Richtung Spielfeld. Sportlich stand schließlich einiges auf dem Spiel. Da kam der ungebetene Besuch nicht gerade zu einem optimalen Zeitpunkt. Oben auf dem Weg ging es vor den blauen mobilen Toiletten allerdings weiter zur Sache. Im satten Strahl wurde nun das pfeffrige Zeug verteilt. Hitzige Diskussionen kamen auf, das Ganze drohte komplett zu eskalieren. Ich bahnte mir den Weg nach oben und ließ die Kamera weiter laufen. Hunderte Gedanken schossen gleichzeitig durch den Kopf. Es war schwer, genau jenen klar zu behalten. Ich musste an diverse Sinnlos-Einsätze der Polizei in Bochum und Gladbach zu Beginn der 1990er denken, als schmerzfrei auf alles eingedroschen wurde, was gerade im Wege stand. Wie Vieh wurde man mitunter als Gästefan nach einem Abendspiel zum Bahnhof getrieben. Wut, Ohnmacht, der Fußballfan als Prügelknabe.
„Lasst Euch doch nicht provozieren!“, rief wieder ein BFC-Fan. Manch andere hatten es denkbar schwer, die Contenance zu bewahren. „Die sind doch angewichst!“, meinte einer aus der Masse. Immer wieder ertönte das „ACAB!“ Vor den mobilen Klohäuschen wurde es dann richtig heiter. Der weinrote Mob war aufgebracht, die sich langsam zurückziehende Polizei fühlte sich bedrängt und pfefferte auf alle, die in Reichweite waren. Aus dem Nichts drehte sich ein Beamter um und drückte einen Fan ans Klohäuschen. Bitter: Er rieb sich bereits die brennenden Augen. Als Nachtisch gab es noch einmal aus kurzer Distanz einen fetten Strahl. Plötzlich bemerkte auch ich, dass ich durch meine Brille gar nicht mehr schauen konnte. Ich nahm sie kurz ab und stellte fest, dass die Brillengläser aussahen, als hätte plötzlich der Regen eingesetzt. Was zum Teufel?! Ich verstand nicht ganz. Den Strahl hatte ich in der Aufregung gar nicht kommen sehen.
So weit das Auge reichte: Fans, die sich wegdrehten, bückten und die Augen rieben. Und das war´s noch lange nicht! Statt Rückzug gab es nochmals einen Vormarsch. Direkt neben mir wurde ein Fan von einem Polizisten zu Boden gerissen. Meine Fresse, auf den Steinstufen hätte er sich leicht das Genick brechen können. Wenig später sauste ein Gegenstand in Richtung Polizisten. Daraufhin wurden die Reizgas-Pullen noch einmal kräftig durchgeschüttelt. Da ging noch was! Es gab ja noch die „Schwarzwurzeln“! Zack! Die Schlagstöcke wurden angesetzt. Ein paar Fans applaudierten und riefen immer wieder: „Bravo! Kleine Kinder! Kinderschläger!“ In der Tat war die Gästekurve bunt gemischt. Wer sich im hinteren Bereich der Gästekurve befand, hatte gar keine Chance zu entkommen. Zumindest kam dort jeder in den Genuss die beißende Wolke einzuatmen.
Es erfolgte ein weiterer Rückzug, und bei diesem muss das geschehen sein, was in den kommenden Tagen durch die Medien ging. Am Rande des Geschehens schlug ein Polizist einem Fan, der an einem Zaun stand und telefonierte, mit der Faust ins Gesicht. Mal einfach so. Die Bilder und Videosequenzen sorgten im Nachfeld für reichlich Gesprächsstoff. Winkten anfangs noch viele ab und berichteten mal wieder von der „Eiterbeule des Fußballs“ - Randale? Polizei? Die BFC-Fans mussten einfach Schuld haben -, so änderte sich dies zwei, drei Tage später. Der Polizeieinsatz warf viele Fragen auf und wurde heftig kritisiert.
Auf dem Rasen hatte Tennis Borussia Berlin mit 4:2 gewinnen können, kaum einer nahm davon so richtig Notiz. Die anwesenden Fans hatten die Nase gestrichen voll, und auch ich bahnte mir den Weg in Richtung Ausgang. Ich machte den klassischen Fehler und rieb an den Augen. Nun kam das Pfeffer erst richtig zur Geltung. Es brannte, die Nase lief, ich konnte kaum noch sehen. Was für eine verdammte Scheiße! Hilfe konnte man im und direkt am Stadion nicht erwarten. Die Polizisten winkten nur ab, Sanitäter waren nicht vor Ort. Mit einem Kumpel lief ich in Richtung S-Bahnhof Eichkamp. Dort wollte ich mir am Kiosk eine Flasche Wasser besorgen. Da dies nicht möglich war, führten mich die dort eingesetzten Polizisten zu einem Krankenwagen. Ein Sanitäter spülte mir die Augen aus und das Gesicht gründlich ab. Augen und Haut brannten wie Feuer, nach der Ersten Hilfe wurden die Schmerzen ein wenig gelindert. Ein Protokoll wurde nicht aufgenommen, als Verletzter würde ich in keiner Statistik auftauchen. Ein typischer Kollateralschaden halt.
Auf dem S-Bahnsteig fanden sich nach und nach die BFC-Fans ein. Es wurde sich gesammelt. Aus der Wut und Empörung wurde nun Trotz. Gesänge wurden angestimmt. Niemand wollte abfahren, bevor der gesamte Mob beisammen war. Die auf dem Bahnsteig eingesetzten Polizisten machten noch immer einen muffigen, gereizten Eindruck. Davon ließen sich die weinroten Fußballfreunde nicht beeindrucken. Auf Bahnsteig und Treppe wurde eine kraftvolle Uffta angestimmt. Diese wirkte befreiend und löste die immense innere Anspannung. Die Augen und die Gesichtshaut waren noch ein, zwei Tage gerötet. Der Fellkragen meiner Lederjacke roch auch nach mehreren Waschvorgängen streng nach dem gereichten Pfeffi im Mommsenstadion am Advent nach Nikolaus 2008…
Anmerkung:
Dies ist Tür 13 eines Weihnachtskalenders. Tür 14 öffnet sich morgen an dieser Stelle.
Der Fußball-Weihnachtskalender ist ein gemeinsames Projekt von@berlinscochise, Zebrastreifenblog, Cavanis Friseur, turus.net, Nachspielzeiten und 120minuten.
Informationen zur Fußballblog-Weihnachtskalender-Idee und eine Liste mit allen bisherigen Türchen, die natürlich fortlaufend aktualisiert wird, findet Ihr hier.
Fotos: Marco Bertram