58.492 Fußballfreunde im Berliner Olympiastadion am Nachmittag des 28. Oktober 1995 - Gänsehaut und Tränen in den Augen. Als der F.C. Hansa Rostock damals in Berlin die Frankfurter Eintracht empfing, wurde aus der von Seiten des DFB angedachten Strafe ein wunderbares Geschenk - und auch für mich wurde es zu einem der emotionalsten Fußballspiele der vergangenen 27 Jahre. Zwar hatte ich bereits mehrfach über diese legendäre Erstligapartie geschrieben, doch fragte ich mich in letzter Zeit, wie sich konkret im Herbst 1995 der eigene Fußballalltag gestaltet hatte. Man kennt das ja, einzelne Bilder und Sequenzen bleiben im Geiste hängen, das Drumherum versickert indes im geistigen Nirvana. Der Torjubel beim Ausgleichstreffer zum 1:1 von Carsten Klee? Eingebrannt im Gedächtnis! Es scheint, als sei es gestern gewesen. Das Gefühl und die Gedanken dabei. Der Blick ins weite Rund, der nach und nach von den Tränen getrübt wurde. Mich übermannten die Gefühle. Ich war völlig fertig. Zum einen spürte ich unfassbare Freude und jubelte gemeinsam mit den zehntausenden Hansa-Fans, anderseits kam auch ein wenig Trauer auf. Als gebürtiger Berliner fühlte ich mich wie ein Gast, der auf der Megaparty mal schnuppern durfte. Nach der Party würde die Karawane weiterziehen, und zurück bleibt die damalige Trostlosigkeit des Berliner Fußballs. Der 1. FC Union Berlin und der FC Berlin kickten in der Regionalliga Nordost, Hertha BSC kam in der 2. Bundesliga einfach nicht aus dem Knick. Was für trostlose Spiele hatte ich Anfang und Mitte der 90er in der maroden Schüssel gesehen?! 4.500 Unentwegte bei Nieselregen an einem Novemberabend gegen Wolfsburg oder Mainz 05. Hardcore! Während meiner Ausbildung im Rheinland von 1991 bis 1994 konnte ich mir als Berliner schon mal eine Menge anhören, was die Fußballsituation in meiner Heimatstadt betraf. Mal mit Humor, mal mit gehässiger Schärfe. Willst du die Buletten oben seh´n, musst du die Tabelle dreh´n! Ha ha!
Ein Spiel das alles veränderte: F.C. Hansa Rostock vs. Eintracht Frankfurt im Oktober 1995
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Ja, ich weiß es noch ganz genau! Nach dem 29. Spieltag der Saison 1993/94 stand Tennis Borussia in der Tabelle der 2. Bundesliga auf dem letzten Platz. Hertha BSC war Vorletzter. Die aus der Tageszeitung ausgeschnittene Tabelle lag auf meinem Arbeitsplatz. Umgedreht - versteht sich. Ein unsympathischer Arbeitskollege grinste mich blöd an. Das war ein brachialer Schlag in die Fresse. Scheiß auf TeBe, dachte ich, aber Berlin ist nun mal Berlin. So viel Peinlichkeit muss echt nicht sein! Kein Wunder, dass ich stets schaute, was der gesamte Fußball-Osten so anstellte. Wenn schon meine Heimatstadt solch ein desaströses Bild abgab, so musste es ja nicht gleich der gesamte Osten tun. So wie viele andere Freude und Kumpels aus dem Osten drückte ich (fast) allen Vertretern die Daumen. Rein sportlich gesehen. Jena und Chemnitz etwas weniger, Dresden und Rostock deutlich mehr. Als ich im September 1991 für drei Jahre ins Rheinland zog, wurden ein paar Auswärtsspiele von Dynamo Dresden und Hansa Rostock mitgenommen. Hansa und Dynamo zu Gast in Leverkusen. Ein erstes Anschnuppern im Ulrich-Haberland-Stadion vom C-Block aus. Im April 1992 stellte ich mich mit Karsten im Müngersdorfer Stadion mit hinein in den Gästeblock. Die Rostocker zu Gast beim 1. FC Köln! Eine erste Begegnung. Wie ein blind Date. Und es knisterte sogar ein bisschen. Das war mir damals aber noch nicht so bewusst. Eine geheime Liebschaft zwinkerte mir quasi zu - und ich raffte das nicht. Mir musste Hansa erst später mit dem Hammer auf die Birne hauen, damit mir klar wurde, dass da was lief und ein verstecktes Eckchen im Herzen blau-weiß-rot schlug… Wem ich das gestand? Niemanden. Ich glaube, nicht mal mir selbst. Es hatte was von verbotener Liebe. Erst mit dem Schreiben meines Buches über den FCH rückte ich mal ein bisschen mit der Sprache raus…
Doch zurück in die 1990er: Bekanntlich stieg Hansa Rostock nach der Saison 1991/92 in die 2. Bundesliga ab, und der 1. FC Dynamo Dresden (damals nicht „SG“) musste bis 1995 allein das Fähnchen im Osten hochhalten. Für Dresden kam es am Ende der Spielzeit 1994/95 knüppeldick. Sportlich abgestiegen - und dazu noch völlig blank. Otto ließ grüßen. Keine Lizenz für die 2. Bundesliga - in der neu geschaffenen Regionalliga Nordost musste Dresden einen Neustart in Angriff nehmen. Umso größer das Aufatmen im Osten, als der F.C. Hansa Rostock in genau jener Saison den Sprung zurück ins Fußballoberhaus gepackt hatte. Der drohende weiße Fleck blieb aus. Mit Bravour und Leidenschaft spielten sich die Rostocker unter Trainer Frank Pagelsdorf nicht nur in die Herzen der Hansa-Fans. In der bundesweiten Sympathie-Skala kletterte der F.C. Hansa Rostock immens nach oben. Im Berlin-Brandenburger Raum stieß Hansa quasi offene Türen ein.
Für mich persönlich blieb es Mitte der 1990er Jahre weiter spannend. Nach drei Jahren in NRW, in denen ich die gesamte Palette Fußball gekostet hatte - von den Oberligen bis hin zum Europapokal, kehrte ich im Juli 1994 wieder zurück nach Berlin. Auch wenn ich weiterhin häufig mit der Bahn in den Pott und ins Rheinland düste, um Freunde zu besuchen und weiterhin dortigen Fußball zu genießen, so richtete sich mein Fokus ab Herbst 1994 verstärkt auf den Fußball in meiner Heimatregion. Was tut sich in Dresden und Rostock? Und auch mal den Nervenkitzel in Zwickau und Leipzig-Leutzsch suchen. Ha, das Gefühl war damals nicht so viel anders als heute. Aber Spaß beiseite, der Fußballhorizont musste einfach erweitert werden, ich wollte Zusammenhänge besser verstehen. Da blieb es nicht aus, dass im November 1994 vor dem AKS ein Veilchen eingefangen wurde und später am Leipziger Hauptbahnhof ein Beamter in Vollmontur einen herzhaften Griff an den Hals vollzog. Es war nicht schön, aber manch Wildes hatte ich zuvor in den drei Jahren in NRW erlebt. Vom „Goldenen Schlagstock“ in Bochum bis hin zum gezogenen Schal am Gladbacher Bökelberg. Von den stürzenden Polizeipferden in Eindhoven ganz zu schweigen.
Sommer 1995. Der F.C. Hansa Rostock war wieder erstklassig, drei Freunde und ich holten am Strelasund zwei Bootsschalen vom Typ Hiddensee ab. Diese wollten wir in einer Scheune am Rande von Berlin die kommenden vier Jahre hochseetauglich ausbauen. Volle Fahrt voraus! Die Kogge ging auf Beutezug in der 1. Bundesliga. Die beiden acht Meter langen Segelboote stachen später in See, mit dem Ziel Sydney. Zwar ist das eine andere Geschichte, doch fiel mir halt auf, dass im besagten Sommer 1995 gewisse Weichen für die Zukunft gelegt wurden. Ende der 1990er pendelten wir immer wieder zwischen Berlin und Rostock / Warnemünde, um die Segelscheine zu machen und die Praxis mit gecharterten Booten auf der Ostsee zu üben. Abends in LT-Club und Studentenkeller hübsch die Kante geben, tagsüber ab in die Segelschule. Und danach mit dem Segellehrer im „Seehund“ wieder einen Heben gehen.
Fußball. Boote bauen. Segeln üben. Und sonst? Auf einem Kolleg holte ich mein Abitur nach. Soweit es die Zeit zuließ düste ich quer durch die Lande und schaute mir ein Fußballspiel nach dem anderen an. Zu jener Zeit zog ich von einer WG zur anderen. Alles easy going damals. Die Mieten waren im Vergleich zu heute ein Klacks. Von Berlin-Mitte ging es in die Friedrichshainer Kinzigstraße (das „Café Attentat“ gleich in Sichtweite), im Oktober 1995 bezog ich eine Erdgeschosswohnung in der Bornholmer Straße. Schön mit einer Badewanne am Küchenfenster (draußen vor dem Fenster wurden im Innenhof die Fahrräder geparkt) und klassischer Ofenheizung. Eigene Möbel hatte ich zu jenem Zeitpunkt kaum. Machte nix. Die Bude war voll ausgestattet. Eine Mischung aus Gelsenkirchener Barock und schwarzem 90er-Jahre-Furnier.
Anfang Oktober 1995 hatte ich mich nach der Schule in die warme Wanne gelegt und schmökerte in der Sportbild. In dieser wurden die Ereignisse beim Duell F.C. Hansa Rostock vs. FC St. Pauli aufgearbeitet. Am 23. September war es im Ostseestadion ein wenig hitzig geworden. Ja, schöner Mist, ich hätte mal hinfahren sollen! Legendär wurde die Aussage von Trainer Frank Pagelsdorf in „ran“: „… und außerdem war es kein Tränengas!“ - „Was war es denn?“ - „Na wahrscheinlich ne Rauchbombe!“ Während man in Rostock versuchte die Vorkommnisse nicht noch weiter hochzuspielen, wollte der DFB hart durchgreifen. Es blieb nicht bei einer Geldstrafe. Und es gab auch kein Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Vielmehr sollte das Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt in mindestens 200 Kilometern Entfernung ausgetragen werden.
Der F.C. Hansa Rostock wurde schnell fündig. In Berlin erklärte man sich bereit, das Olympiastadion zur Verfügung zu stellen. Gerechnet werden durfte mit vielleicht 15.000 Zuschauern. Es war schwer zu sagen, wie interessiert das Berliner Publikum an solch einer Partie war. Im Vorfeld zeigte sich dann, dass die Hansa-Fans mächtig mobil machten. Alle in die Hauptstadt! Und so fuhren am 28. Oktober 1995 ganze Karawanen von Mecklenburg-Vorpommern gen Süden. Ich war heiß auf dieses Spiel, ahnte aber nicht, dass es solch eine Wucht werden würde. Ich kaufte mir eine Karte für den Oberrang, um einen guten Blick auf das Ganze haben zu können. Witzigerweise stand auf den Tickets „Ostseestadion“. So schnell konnten keine für das Olympiastadion passende Karten gedruckt werden. 20 Mark hingelegt und „Höffner“ ließ schön grüßen.
Eine Viertelstunde vor Anpfiff traute ich meinen Augen kaum. Immer mehr Menschen strömten in die marode Schüssel. Schon bald durfte mit locker 35.000 Zuschauern gerechnet werden. Und längst war noch nicht Schluss. Die Partie wurde bereits angepfiffen, als immer mehr Blöcke geöffnet wurden und diese sich nach und nach füllten. Letztendlich waren es knapp 60.000 Fußballfreunde, die dieses Bundesligaspiel sehen wollten. Da fehlten einem echt dir Worte. Zum einen war die Anzahl der angereisten Hansa-Fans phänomenal, zum anderen freute ich mich, dass auch viele Berliner und Brandenburger ohne direkten Hansa-Bezug die Rostocker unterstützten. Das zeigte ganz klar, viele Berliner dürstete es nach Erstligafußball. Manch einer hätte den F.C. Hansa gleich im Paket genommen. Lasst die Rostocker doch immer - oder zumindest jedes zweite Heimspiel - in Berlin spielen!
Zum Spiel: Auf dem Platz mit dabei war Hansa-Stürmer Steffen Baumgart, der nach einem Hexenschuss wieder einsatzfähig war. Besser in die Partie kamen allerdings die Frankfurter. Vielleicht war noch immer das Drama von 1992 im Hinterkopf, auf jeden Fall drehte die SGE erstaunlich gut auf. Nicht unverdient brachte Augustine „Jay Jay“ Okocha mit einem satten Schuss kurz vor der Pause die Eintracht in Führung. Und auch im zweiten Spielabschnitt wussten die Gäste zu überzeugen. Ein Lattenschuss bei einbrechender Dämmerung, dann eine hervorragende Parade von Hansa-Keeper Perry Bräutigam. Von Minute zu Minute litt ich mehr mit. Es roch nach dem 0:2 und ich flehte den Fußballgott an, heute dem F.C. Hansa das nötige Quentchen Glück zu geben. Ein Rostocker Treffer musste her. Einmal diese blau-weiß-rote Masse jubeln sehen!
Komm Hansa, schenk der Eintracht einen ein. Mach nicht nur Mecklenburg-Vorpommern, sondern den ganzen Fußball-Osten stolz! Ich rutschte aufgeregt auf der Bank hin und her. Die kleine Kamera hielt ich in der Hand bereit. Für den Moment, wenn der Rostocker Jubelorkan ausbricht. Und das Flehen wurde erhört, von wem auch immer. Hansa legte in der Schlussphase noch ein gehöriges Schippchen drauf, warf alles in die Waagschale. Mit Erfolg. In der 75. Minute kam nach Hereingabe von rechts Carsten Klee an den Ball. Gegen die Laufrichtung von Andy Köpke brachte er das Spielgerät im Gehäuse unter. 1:1! Was für ein emotionaler Jubel! In der Ostkurve flammten zwei rote Bengalen auf. Einer der großartigsten persönlichen Momente beim Fußball in meinem bisherigen Leben! Wahre Dämme brachen. Innere Lasten fielen ab. Eine unfassbare Genugtuung machte sich breit. Meine Augen wurden feucht. Tränen kullerten die Wangen herunter. Diese Atmosphäre packte mich, Gänsehaut bildete sich auf den Armen. Ich war froh an diesem Tag allein im Stadion gewesen zu sein, somit konnte ich diesen unfassbaren Moment ungestört auskosten und musste mich nicht wegen der Tränen schämen. Davon ganz abgesehen, werden bei tausenden Zuschauern die Augen feucht gewesen sein.
Ich ballte die Fäuste. Der F.C. Hansa brachte das 1:1 über die Zeit. Das Unentschieden wurde gefeiert wie ein Sieg. Leicht benommen setzte bzw. stellte ich mich nach dem Spiel in die proppenvolle U2 und fuhr durch bis zur Schönhauser Allee. Beim Schlendern zu meiner damaligen Wohnung in der Bornholmer Straße ließ ich alles noch einmal Revue passieren. Die Rostocker Auftritte in Köln und Leverkusen, das heutige Spiel gegen die Eintracht. Hansa Rostock? Muss ich in Zukunft öfters schauen! Allerdings kam ich in den kommenden Jahren kaum dazu. Das Segelprojekt ließen Fußballausflüge immer weniger zu. Im Oktober 1999 stachen wir schließlich in See. Von der Marina Neuhof aus am Strelasund ging es über die Ostsee, an Rostock vorbei, nach Kiel. Weiter durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Brunsbüttel, dann die Elbe hoch nach Cuxhaven. Nach dem Warten auf das Wetterloch, das sich dann als derber Sturm entpuppte, segelten wir schließlich nach Helgoland und von dort aus in Richtung Westen - fast in den Untergang. Und Hansa? Unsere Wege fanden schließlich im Neuen Jahrtausend zusammen - und das ist gut so!
Anmerkung: Alte Zeiten, große Schlachten. Das Kapitel über das legendäre Spiel im Berliner Olympiastadion im Oktober 1995 und vieles mehr ist in meinem 512-seitigen Wälzer „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ zu lesen. Weitere Infos und Bestellmöglichkeit gibt es auf meiner privaten Webseite.
Fotos: Marco Bertram
Benutzer-Kommentare
danke für die kleine zeitreise ;-)