Legia Warszawa vor 25 Jahren: Sibirische Kälte, Bengalen, Żyleta und Teddys ´95

Legia Warszawa vor 25 Jahren: Sibirische Kälte, Bengalen, Żyleta und Teddy Boys ´95

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Hören wir „Legia“, denken wir sogleich an „Żyleta“. Hören wir „Żyleta“, werden wir wohl nicht an den nächsten Drogeriemarkt denken, sondern an die aktive Fanszene von Legia Warszawa. Egal, wo Legia antritt, die Zaunfahne mit der Rasierklinge ist immer mit dabei. Seitdem 2010/11 das neue Stadion Wojska Polskiego die Heimstätte von Legia ist, sind die aktiven Fans von Legia hinter dem Tor auf der Nordtribüne anzutreffen. Im alten Stadion standen diese jedoch auf der östlich gelegenen Gegengerade im zentralen Bereich. Konnten bei wichtigen Heimspielen Zuschauer in größerer Zahl angelockt werden, erweiterte sich der Wirkungsbereich von Żyleta auf die gesamte nicht überdachte Gegengerade.

Verrückt klingt die Sache mit der Herkunft des Namens „Żyleta“. Das alte Stadion Wojska Polskiego wurde bereits am 9. August 1930 im Rahmen des Testspiels Legia Warszawa vs. Club Esportiu Europa (1:1) eröffnet, und bis in die 1970er Jahre wurde die Osttribüne einfach nur als „offene Tribüne“ bezeichnet. Ende der 1970er erhielt die Gegengerade nach und nach einen neuen Namen. Der Grund: An zentraler Stelle befand sich eine große Reklametafel für Polsilver Rasierklingen, demzufolge setzte sich schon bald der Name „Żyleta“ durch, mit dem quasi in einem Atemzug die dortigen Legia-Fans, als auch die Tribüne als solches bezeichnet wurden. 

Nachdem es beim polnischen Pokalfinale am 18. Juni 1995 im Stadion Wojska Polskiego bei der Partie Legia Warszawa vs. GKS Katowice (2:0) zu schweren Ausschreitungen gekommen war, wurde als Strafe die Polsilver-Werbetafel entfernt. Inzwischen war jedoch Żyleta mehr als ein Teil des Stadions, es ist ein Synonym für die engagierte und liebevolle Unterstützung der Fußballmannschaft von Legia Warszawa geworden. Wer im Sektor von Żyleta stehen wollte / will, musste / muss sich an den inoffiziellen Verhaltenskodex halten. Bedingungslose Unterstützung von Legia ist der Kernpunkt. Bei Żyleta stehen zu dürfen, darf als klares Privileg betrachtet werden. 

Im Dezember 1995 besuchte ich das erste Mal ein Heimspiel von Legia Warszawa - der ausführliche Bericht von jener Tour folgt weiter unten -, und zu jenem Zeitpunkt gab es bereits die schlagkräftige Gruppierung „Teddy Boys '95“, deren Wurzeln jedoch weit in die 1980er Jahre zurückreicht. Fußballfans aus der polnischen Hauptstadt waren bereits zur Zeiten der Volksrepublik äußerst unbeliebt, und bereits damals bekamen die „Rowdys“ von Legia die „Schwarzwurzeln“ der Miliz zu schmecken. Noch wilder wurde es zu Beginn der 1990er Jahre, und man musste auswärts wahrlich „Eier“ in der Hose haben, um bestehen zu können. Die Polizei war komplett überfordert und bekam den ganzen Hass der Fußballfans zu spüren. Demzufolge wurde auch mal richtig ultraderb zurückgeknüppelt. Aber auch untereinander gab es nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Jüngere Fans mussten sich den Älteren unterstellen und auch schon mal finanziell was in den Klingelbeutel tun. 

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre machte sich die „Stopper's Gang ’89“ einen Namen, 1995 traten etliche Mitglieder den neu ins Leben gerufenen „Teddy Boys ’95“ bei. Der Kern der Gruppierung entstammte damals aus der Stadt und deren Umland. Alles schon lange her, denkt man sich, doch auch in jüngerer Vergangenheit traten die Hools der „Teddy Boys ’95“ in Erscheinung. Der eine oder andere wird sich sicherlich an die Bilder vom Auftritt von Legia in Madrid erinnern, als im November 2016 rund 3.000 polnische Fußballfreunde für reichlich Schlagzeilen gesorgt hatten. Die Fotos von Tomasz Czerwinski, dessen Gesicht blutverschmiert war, gingen um die Welt. Er wollte sich reihenweise die spanischen Polizisten vorknöpfen, und Angst vor dem möglichen Arrest hatte er keine. Schließlich war er zuvor bereits insgesamt 17 Jahre im polnischen Knast.

Nun denn, gehen wir gedanklich wieder zurück ins Jahr 1995. Nachdem es für mich bereits als Jugendlicher im Sommer 1987 das erste Mal in die Volksrepublik Polen ging (Warschau, Danzig und Ferienlager in Mikoszewo an der Weichselmündung), folgten Anfang der 1990er weitere Touren nach Polen. Neben den üblichen Tagestouren über die Grenze ging es im Mai 1995 nach Jelenia Góra, um von dort aus eine Wanderung durch das Riesengebirge in Angriff zu nehmen. Im Dezember 1995 ging es schließlich ein erneutes Mal in die Hauptstadt. Folgend der Bericht von jener wirklich geilen Sause:

Gemeinsam mit Jan aus Frankfurt/Oder saß ich wieder einmal in seinem weißen Golf und düste auf der A2 von Leverkusen nach Berlin. In seiner Freiwoche wollten wir spontan etwas unternehmen. Das Abitur am Kolleg bot mir wahrlich sämtliche Freiheiten. „Hast du gehört? Legia Warschau spielt gegen Spartak Moskau! Wollen wir hin?“, haute Jan einfach mal raus. „Wow, klingt geil. Wann denn?“, fragte ich. „Na morgen. Wenn wir hinwollen, müssten wir heute Abend noch den Nachtzug nehmen. Teuer wird dieser kaum sein“, erklärte er. Und im Prinzip stand das Ganze bereits fest. Ja, wir holten bei mir in der Wohnung noch paar Klamotten ab, fuhren dann zu seinen Eltern nach Frankfurt/Oder und stiegen am späten Abend in den Nachtzug, der uns in die polnische Hauptstadt brachte. 

In meiner damaligen Wohnung in der Bornholmer Straße hatte ich noch einen Zettel für meine Mitbewohnerin hinterlassen. „Hi Kathrin, bin spontan nach Warschau gefahren. Wir sehen uns übermorgen!“ Eigentlich war gemeinsames Kochen geplant, doch das Champions-League-Spiel in Warschau hatte dieses Mal Vorrang.

Ein polnischer Nachtzug in den 90ern! Krass, krass, krass. Mit anderen Worten kann man diesen kaum beschreiben. Es war wirklich die Härte, was sich dort in den Gängen alles abspielte. Oder besser gesagt, was für Gestalten dort ihr Unwesen trieben. Seit 1987 war ich nicht mehr in Warschau gewesen. Damals fuhr ich mit anderen Kindern und Jugendlichen mit dem Zug in die Hauptstadt der Volksrepublik Polen, um anschließend mit dem Bus zu einem Ferienlager in der Nähe von Danzig zu tuckern. Zwei Wochen, um als 14-Jähriger das Land lieben zu lernen. Einzig die auf einen wehrlosen Betrunkenen knüppelnde Miliz in einer Warschauer Nebenstraße ließen mich damals zutiefst erschrecken. Sämtliche anderen Erlebnisse waren überaus positiv und selbst die Nacktschnecken in dem grünen Salat in einem Warschauer Restaurant nahm ich nicht krumm.

Sieben Jahre später zeigte sich das Nachbarland von einer anderen Seite. Manch eine Gestalt im Zug machte dem damals nicht wirklich guten Ruf Polens alle Ehre. Jan und ich hatten ein Abteil für uns allein, doch immer wieder öffnete sich die Tür und irgendein Typ glotzte rein und laberte uns von der Seite an. Bereits kurz hinter der Grenze begann bei Rzepin das Spektakel. Sämtliche Schwarzgeldtauscher, Taschendiebe und Schnorrer Osteuropas schienen sich in dem alten, muffigen Zug versammelt zu haben. Dem nicht genug, hielt der Zug immer wieder auf offener Strecke oder an einem einsamen Bahnhof. Schatten huschten draußen auf den Gleisen umher. Mit Taschenlampen wurde in die Abteile gefunzelt. Eine wirklich schräge Nummer. Jan und ich feierten gut ab, doch irgendwann gegen drei Uhr wurden wir mächtig müde.

Die trockene, extrem warme Luft machte einen zu schaffen und ließ die Augenlider schwer werden. Ans Fensteröffnen war indes nicht zu denken. Der Grund: Es war Rekordwinter und draußen herrschten sibirische Temperaturen. Minus 20 Grad wurden in Berlin gemessen, in Polen dürfte es noch übler gewesen sein. Ob Legia und Spartak am kommenden Abend überhaupt zum CL-Spiel antreten würden, durfte ein Stückweit bezweifelt werden. Andererseits: Wir sprechen vom Dezember 1995. Hochmoderne Arenen waren in Russland und Polen noch ein Fremdwort. Kernige Spielbedingungen auf gefrorenem Rasen waren keine Seltenheit. Und da keine italienische Mannschaft, sondern ein Team aus Moskau zu Gast war, dürfte das Ganze vielleicht doch angepfiffen werden. 

Bevor Jan und ich jedoch an Fußball im Stadion Wojska Polskiego denken durften, mussten wir jene Nacht heil überstehen. Zwar hatten wir wirklich nur das Nötigste dabei, doch irgendwo musste man schließlich Fotokamera, Reisepass und Bargeld unerreichbar verstauen. Wir legten die Beine hoch, wollten ein Nickerchen halten und all diese herumstromernden Typen vergessen. Ich steckte mein Geld in die Unterhose, die kompakte Kamera schob ich in eine Hosentasche. Jan packte alles in seine Jacke und legte seinen Kopf auf diese. Was sollte da noch passieren? Eine Tasche, die man heimlich, still und leise wegnehmen hätte können, hatten wir nicht dabei. Also Augen zu und Dösen. An festen Schlaf war aufgrund des Gerumpels auf dem Gang und des Krachens beim Überqueren der alten Weichen eh nicht zu denken. 

Im Morgengrauen erreichten wir Warschau. Geschafft! Wir wurden nicht abgestochen und meine sämtlichen Utensilien waren auffindbar. „Und bei dir, Jan?“ Geldbörse und Reisepass waren auch bei ihm am angestammten Plätzchen. Na prima, dann nichts wie los in die eisige Stadt! War es bereits in Berlin richtig kalt, so spottete die eisige Brise in Warschau jeder Beschreibung. Trotz Wanderstiefel, zwei paar Socken, untergezogener Jogginghose und dicker Mütze kroch die Kälte in Sekundenschnelle in sämtliche Kleidungswinkel und ließ einen erstarren. Als wir in einem „Kantor“ Geld wechseln wollten, die nächste Überraschung. „Mein Geld ist weg!“, ließ Jan verlauten. „Was? Willst du mich verarschen? Wie, dein Geld ist weg? Ich denke, dein Portemonnaie ist in deiner Jackentasche?“, „Ist es ja auch. Es lag morgens an der gleichen Stelle, doch die hundert Mark sind weg!“, „Hundert Mark? Warum so viel?“, „Ich wollte meinen Eltern was mitbringen. Wodka und so. Für nen Kumpel Zigaretten. Und für mich ein Andenken. Fußballwimpel von Legia und so was halt!“, „Puh, haben wir ja Schwein gehabt, dass sie meine Knete nicht auch noch geklaut haben. Wird schon reichen für uns beide. Krass, da haben die Penner das echt geschafft, heimlich in unser Abteil zu schleichen, das Geld zu nehmen und dann wieder das Portemonnaie an die alte Stelle zurückzupacken? So merkt man das meist erst später und macht im Zug nicht gleich nen Aufstand. Profis halt. Ohne Worte!“

Acht Uhr morgens in Warschau. Nikolaustag. Schnee. Eiseskälte. Kräftige Windböen. Gefühlte minus 35 Grad Celsius. Was stellt man an solch einem Tag an? Die Antwort: Sich erst einmal Gebäckteilchen und einen heißen Kaffee an einem dieser schmuddeligen Kioske reinhauen und dann einen Spaziergang machen. Bei solch einer brachialen Witterung hatte alles einen ganz besonderen Charme. Auf der Weichsel türmten sich die Eisschollen, auf dem oberen Ring des einstigen Stadion Dziesieciolecia (Stadion des 10. Jahrestages in Warschau) herrschte trotz der sibirischen Kälte reges Treiben. Die gigantische, lieblose Schüssel, die einst am 22. Juli 1955 eröffnet wurde, war für Fußballspiele längst nicht mehr in Betrieb. Stattdessen gab es ringsherum einen Polenmarkt der feinsten Güte.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus verpachtete die Stadt Warschau das größtenteils aus dem Bauschutt der zerstörten Häuser des Warschauer Aufstandes errichtete Stadion an die Handelsgesellschaft Damis, die auf dem Gelände den „Jarmark Europa“ errichtete. Selbst auf späteren gemeinsamen Reisen nach Vladivostok und Irkutsk bekamen Jan und ich nicht solch einen kuriosen Anblick geboten. Einsam kreisten die Krähen über die Stände und Büdchen. „Napoje, Hot-Dogs, Hamburgery, Zapiekanki“, war an einem alten, vergammelten Wohnwagen zu lesen. Na dann guten Appetit! Rostige Container, abgestellte Ladas aus der Ukraine, Weißrussland und Litauen sowie all diese in Vietnam hergestellten Plastiktaschen prägten das Bild. Hier ein Zigarette schmauchender Pole mit typischer lila-gelber Nylon-Jogginghose und fettem Schnauzer, dort ein altes Mütterchen, das einen vollgepackten Trolli hinter sich herzog. 

Am Nachmittag hatten wir genug von der Kälte. Bevor es abends in die frostige Fußballhölle gehen würde, mussten wir uns aufwärmen. Jan und ich liefen schnurstracks in den imposanten, 237 Meter hohen Kulturpalast und wollten von oben aus einen Blick auf die winterliche Stadt werfen. Ich konnte mich erinnern, dass ich im Sommer 1987 mit den anderen Ostberliner Kids oben in 114 Metern Höhe am Geländer stand und kleine Münzen auf die Passanten warf. Manch einer ließ auch die Spucke segeln. Also rein in den erstbesten Fahrstuhl und auf den obersten Knopf gedrückt. Oben angekommen erkannte ich nichts wieder. Der Kulturpalast wurde im Dezember 1995 gerade umgebaut, für die Öffentlichkeit waren die oberen Stockwerke ganz gewiss nicht geöffnet. 

Auf leeren Gängen drehten wir ein paar Runden und suchten das erstbeste Fenster, um einen Blick nach draußen werfen zu können. Eine Etage tiefer liefen wir einem Wachmann über den Weg, der auf einem Stuhl am Fahrstuhl saß. Bevor er dumme Frage stellen konnte, hasteten wir feixend über die Gänge, nahmen die Treppe und suchten zwei Stockwerke tiefer einen anderen Fahrstuhl auf. Mit diesem ging es wieder nach oben. Die Tür öffnete sich und auch dort saß ein Wachmann auf einem alten Holzstuhl. Wir blieben einfach drinnen und drückten einen beliebigen Knopf. 12. Etage bitte! Es ging abwärts und wir kicherten. Für solch einen Scheiß waren wir wahrlich zu haben. 16, 15, 14. Die Zahlen leuchteten auf. 13, 12, 11, 10 ... Moment mal! Wollten wir nicht auf der 12. Etage aussteigen? Ungefragt fuhr das urige Ungetüm aus alten sozialistischen Zeiten weiter abwärts. Gleich ins Untergeschoss zur geheimen Schlachterei? Oder direkt zur hauseigenen Arrestzelle? 

So falsch war unsere Vermutung gar nicht. 7, 6, 5, 4, 3, 2 und 1. Bing. Die Fahrstuhltür öffnete sich. Draußen standen vier Personen vom Wachpersonal und schauten erwartungsvoll in den Fahrstuhl. Vermutlich erwarteten sie schwergewichtige Kriminelle, denn ihre Blicke gingen an uns scheinbar vorbei. Wir versuchten die Gunst der Stunde zu nutzen und schlenderten scheinbar ahnungslos und desinteressiert an der Truppe vorbei. Wir verließen bereits fast das Gebäude, als wir dann doch noch angesprochen wurden. Ich übernahm das Wort und erklärte, dass wir nur auf die Aussichtsplattform wollten und ich diese aus den 80ern kenne. „Nix geöffnet. Nix Touristen. Geschlossen!“, lautete die abschließende Ansage des Personals. Sekunden später fanden wir uns auf dem eisigen Vorplatz des Palac Kultury i Nauki wieder. 

Wir vertrieben uns noch ein wenig die Zeit und fanden uns überpünktlich am Stadion Wojska Polskiego ein. Dort angekommen bot eine weiße leere Werbetafel ein hübsches Motiv. „Jan, stell dich mal eben davor!“ Gesagt, getan. Mit einem Lächeln lehnte er sich locker an. „Legia Kurwa – Polonia Hooligans“, hatte jemand auf die strahlend weiße Fläche geschmiert. Zu lesen direkt an der Spielstätte von Legia. Das musste einfach festgehalten werden. Daneben ein: „Arka HTM O.K. – Legia Cwele“. Letztes Wort, welches nur in der Umgangssprache existiert, dürfte als „Dummkopf“, aber auch als „Wichser“ oder „Stricher im Knast“ übersetzt werden. Den Jungs von der Legia-Szene schienen bei diesen sibirischen Temperaturen die Hände und Spraydosen eingefroren zu sein, anders konnte man sich nicht erklären, dass kurz vor dem CL-Spiel gegen Spartak Moskau solche Beleidigungen direkt am Stadiongelände zu finden waren.

Immerhin waren noch nicht die Füße der Fans komplett vereist. Knapp 6.000 Fußballfreunde hatten sich am Abend des 06. Dezember 1995 auf den Weg ins Stadion gemacht, um ihr Team zu unterstützen. Rund 100 Russen waren auch vor Ort und zelebrierten im Gästeblock ein kleines Tänzchen. Mit Schal, Mützen und dicken Handschuhen trotzten die Zuschauer den widrigen Bedingungen. Jan und ich standen auf der nicht überdachten Gegengerade und spürten die steife Brise, welche über die Ränge zog. Meine Fresse, das war echt abartig. Kaum in Worte zu fassen. Minus 25 Grad Celsius waren es von Hause aus. In Kombination mit dem Wind ergab sich ein Kältegefühl von locker minus 35 Grad. Ungemütliche Fußballspiele hatte ich während der vergangenen 24 Jahre einige erlebt, doch dieses Europokalspiel in Warschau schlug sämtliche Rekorde. Die Kälte kroch durch jede Faser und die Füße wurden trotz der gar nicht mal schlechten Wanderstiefel und der zwei Sockenpaare in kürzester Zeit zu Eisklumpen. 

Beim Einlaufen der Mannschaften konnte man die Kälte kurz vergessen. Zahlreiche Bengalos wurden am anderen Ende der Gegengerade gezündet. Direkt neben uns stand eine Gruppe polnischer Soldaten mit kuschligen Fellmützen und schaute in Richtung Flammenmeer. Der schottische Schiedsrichter Les Mottram eröffnete anschließend mit einem Pfiff das denkwürdige Spiel. Auf dem hart gefrorenen Rasen hatten sogar die meisten russischen Spieler lange Sachen drunter und Handschuhe an – und das sollte schon was heißen. Der Atem dampfte. Unheimlich hallten die Schlachtrufe über den Platz. Für die Gäste aus Moskau sollte es ein guter Abend werden. Spartak-Keeper Stanislav Cherchesov, der zuvor von Juli 1993 bis Juni 1995 bei Dynamo Dresden gespielt hatte, hielt den Kasten sauber. Und somit genügte den Russen ein einziges Törchen, um das Duell zu gewinnen. Kurz vor der Pause machte der Abwehrspieler Ramiz Mamedov eines seiner wenigen Tore seiner Karriere und ließ die Fans im Gästekäfig kollektiv vor Freude ausrasten. In 33 Champions-League-Spielen gelangen Mamedov gerade einmal zwei Treffer. Einen kurz zuvor beim 3:0-Sieg gegen die Blackburn Rovers und jenen am Nikolausabend in Warschau. 

An die zweite torlose Halbzeit kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich war nur noch mit mir selbst beschäftigt. Mit Mühe versuchte ich, sämtliche Gliedmaßen am Leben zu erhalten. Ich rieb die Hände, stampfte mit den Füßen und zog den Schal noch höher ins Gesicht. Einfach früher gehen? Das kam nicht in Frage. Wofür wären wir sonst nach Warschau gefahren? Dieses Spiel musste bis zum Abpfiff wohl oder übel auf den Rängen verbracht werden, auch wenn wir das Gefühl hatten, dass der Wind von Minute zu Minute noch extremer wurde. Als der schottische Schiri endlich abpfiff, stampften Jan und ich wie in Trance gen Bahnhof, um dort den Nachtzug zurück nach Berlin zu bekommen. Ich steckte meinen Reisepass und mein restliches Geld in den Schlüpper und legte mich im Abteil lang. Dobrarnoc, ihr Schurken und Ganoven dort draußen auf dem Gang und den Gleisen! Leckt mich am Arsch! Wenn ihr meine Knete haben wollt, müsst ihr mir im wahrsten Sinne des Wortes an die Eier gehen! Und das traute ich selbst dem miesesten Braschnik nicht zu.

Anmerkung: Die Passage von der Fahrt nach Warschau im Dezember 1995 wurde dem Buch „Zwischen den Welten“ entnommen.

Fotos: Marco Bertram, Michael, Los Misenas, Erik K.

> zur turus-Fotostrecke: Legia Warszawa

Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
22 März 2020

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