O meu Deus! Wir schreiben den 3. Februar 2022. Der portugiesische Spieler André Miguel Valente da Silva öffnet in der Umkleide sitzend zischend eine Dose Red Bull. „Start your day right!“, steht unter dem TikTok-Video von RasenBallsport Leipzig geschrieben. Was für eine Botschaft an unsere Kinder und Jugendlichen! 5. April 2022. „My Name is Chicky. Chicky, Chicky, Chicky. My name is Cha-Cha …“ Mohamed Simakan und Nordi Mukiele tollen auf dem Trainingsplatz herum und hauen sich am Ende jeweils eine Dose Red Bull der Yellow Edition rein. Es gibt halt nix besseres für einen Sportler als eine Portion Natriumcitrate, Beta-apo-8’-Carotinal, Riboflavin und Taurin.
Taurin im Pokal - Piwo bei Polonia - warum ich niemals zu RB Leipzig gehen würde!
HotOrtswechsel. 15. Mai 2022. Erschöpft, aber glücklich hauen sich die Spieler des FC Polonia Berlin am Hertzbergplatz in Neukölln auf eine Wiese und lassen die Kronkorken knallen. Es gibt halt nichts besseres als die Pilsette danach. Mit 4:1 wurde vor rund 100 Zuschauern das Kreisligaspiel beim Rixdorfer SV gewonnen. Aus der rangekarrten Box ertönte das seit den 90ern beliebte „Bo wszyscy Polacy to jedna rodzina“. Fröhliche Gesichter. Arme werden auf die Schultern gelegt und gemeinsam wird das „Wieczorem, wieczorem, kiedy gwiazdy mocno lśnią. Wieczorem, wieczorem zaśpiewajmy razem song …“ gesungen. Gänsehaut und feuchte Augen. Echtes (Fußball-)Familiengefühl.
Zurück nach Leipzig. „With 50.000 in our city“. Roter Rauch erhebt sich über den Leuten. „Seriously what is this place?“ - „This … is heaven!“ Was zur Hölle?! In der Marketingabteilung von Red Bull weiß man die elegant geschmeidigen Möglichkeiten von TikTok zu nutzen. RasenBallsport Leipzig hatte gegen den SC Freiburg den DFB-Pokal geholt und zieht in den sozialen Medien sämtliche Register. Während jedoch auf TikTok das Ganze schmuck geschnitten und mit geiler Mucke unterlegt wird, kommt beim Betrachten der neutral gefilmten Videos von der Bühne dann eher schon das Fremdschämen auf.
Brav stehen die Fans links und rechts hinter dem Gatter, wedeln die Schals und erfreuen sich am Szenario, das auf der Bühne zu sehen ist. Der Moderator und das Bullen-Maskottchen legen ein Tänzchen hin. „Olé, olé … Leipziger Jungs sind unterwegs. Rot-weiße Farben, wohin ich seh. Unser Stolz des Ostens heißt?“ - „RB, RB …“, rufen ein paar Anwesende zurück.
Fremdschämen par excellence. Hochrollende Fußnägel. Eine Animation wie auf einer Kirmes. Ach wat sach ick. Wie bei einem Football-Spiel in den USA. Unterhaltung und „Fankultur“, wie es sich manche Leute in unseren deutschen Verbänden wünschen würden. Ein bisschen Rauch fürs Entertainment. Ansonsten aber brav konsumierend und unkritisch. Und jetzt bitte: Klatschen! Na, wer ist der Stolz des Ostens?
Nochmals ein „O meu Deus!“, das „Mein Gott“ bedeutet. In Brasilien wird es teils so häufig verwendet wie in Polen das „kurwa“, wenngleich die Bedeutung selbstverständlich eine völlig andere ist. Aber ja, beide Begriffe können rausposaunt werden, wenn man erstaunt ist oder einfach nur den Kopf schüttelt. Und meinen Kopf möchte ich schütteln noch und nöcher. Wie viele andere hierzulande bin ich ein harter Kritiker vom RasenBallsport-Konstrukt seit der ersten Stunde an.
RasenBallsport Leipzig ist nun mal - wie ich es 2016 in einem Artikel ausführlich beschrieben habe - eine perfekte Werbekampagne. Nicht mehr, nicht weniger. Extremsport, Motorsport und Fußballvereine sind die perfekten Sprungbretter, um die Marke „Red Bull“ weiter zu festigen, global noch bekannter zu machen und unter die Top 5 zu positionieren. Irgendwo zwischen Tesla, Apple, Amazon und Google. Und wenn die Position gefestigt ist, kann sich ja eines Tages überlegt werden, was man mit solch einem Marken-Schlachtschiff noch so alles anfängt. Es muss ja nicht bei Taurin-Limonade bleiben.
Also „heaven“ ist für mich die Bullen-Show ganz gewiss nicht. Sie ist ziemlich exakt das Gegenteil von dem, was ich und viele anderen Millionen Menschen lieben. „Heaven“ kann für mich das Fußballspiel um die Ecke sein. Ohne Inszenierung und TamTam. Im Fall von mir und meiner Kinder ist der FC Polonia Berlin eine Familie geworden. Und dabei ist dieser Verein tatsächlich jünger als RasenBallsport Leipzig. Während RasenBallsport Leipzig am 19. Mai 2009 ins Leben gerufen wurde und sogleich den Oberliga-Startplatz des SSV Markranstädt übernehmen durfte, wurde der FC Polonia Berlin 2012 gegründet, startete ganz unten im Freizeitligen-Bereich und arbeitete sich im Schweiße des Angesichts inzwischen hoch bis in die Kreisliga A.
Allerdings ist beim FC Polonia Berlin bereits jetzt mehr Tradition und Authentizität zu spüren. Warum? Weil sich die Vereinsmitglieder und Spieler seit Jahren einbringen, das Ganze Stückchen für Stückchen voranbringen und es sich eine Polonia-Familie gebildet hat. Sicherlich ist es schwer, einen Kreisligisten mit einem Bundesligisten zu vergleichen, doch fingen beide Vereine quasi bei Null an, was das Umfeld betrifft. Während der eine Verein jedoch ganz langsam wächst, wurde das - tja, wie nenne ich das jetzt korrekt? - Red Bull-Marketing-Fußball-Konstrukt mit Hilfe der Kontakte in die Politik und die Verbände und der reingesteckten Millionen nach ersten Anlaufschwierigkeiten von der NOFV-Oberliga bis in die Spitzenplätze der 1. Bundesliga katapultiert.
Nun gibt es wieder die Kommentare: „Ihr seid doch nur neidisch! Ich will doch nur schönen Fußball sehen!“ Und das ist der Punkt. Sind mir die jeweilige Herkunft der Vereine und die Tradition eher schnuppe, kann ich mir getrost vor der heimischen Glotze die Konferenz der englischen Premier League anschauen und die schnellen Spielzüge und geilen Tore bestaunen. Möchte ich jedoch Tradition einatmen, mich an der Historie eines Vereins erfreuen, kann ich schlecht zu RasenBallsport Leipzig gehen. Sehe ich Fußball als reines Entertainment, kann ich dies gewiss tun. Ich frage mich jedoch nur, wie es sich anfühlen würde, einen Schal zu tragen, auf dem ein Logo (kein Wappen) zu sehen ist, das dem des Red Bull-Konzerns sehr ähnlich aussieht.
Für was zeige ich meine Begeisterung? Für die sportliche Aktivität der unten auflaufenden Spieler? Okay - dies würde aber auch ohne Fanutensilien gehen. Ich zeige meine Begeisterung und Liebe zur Messestadt Leipzig? Das ist halt schwierig. Mit Leipzig hat das wenig zu tun. Red Bull war lange auf der Suche nach einem geeigneten, willigen Standort. Es hätte vor 2009 auch Hamburg St. Pauli, München, Düsseldorf oder Essen werden können. Die Fühler wurden ausgestreckt. Auch zum einstigen FC Sachsen Leipzig. Eine Übernahme wie im Fall Salzburg war angedacht. RB St. Pauli oder RB Essen. Was für eine Vorstellung. Zum Glück ist dies nicht geschehen. Noch einmal ein „O meu Deus“!
Also was ist es, wofür ich den RasenBallsport-Schal schwenke und wedle? Was könnte mich motivieren, auf den Zuruf „Unser Stolz des Ostens heißt?“ ein „RB, RB …“ zu rufen? Mein lieber Herr Gesangsverein! Wie kann solch ein Konstrukt eines global agierenden Konzerns der Stolz des Ostens sein? Tradition müsse halt wachsen, meinen zahlreiche Anhänger von RasenBallsport. Schön. Im Fall des FC Polonia Berlin mag dies zutreffen. Was jedoch wächst im Fall RasenBallsport? Auf was wird man eines Tages zurückblicken und im Vereinsheim beim Blättern durch alte Fotos denken? Schön, wie RasenBallsport anfangs ohne Logo spielen durfte. Wunderbar, wie von Beginn an Millionen reingesteckt und Talente aus regionalen Vereinen abgeworben wurden. Wunderbar, wie der sächsische Fußballverband und der DFB letztendlich doch in Sachen Logo drüber hinwegsahen. Ach ja, und wie wunderbar, als nach dem DFB-Pokalsieg anstatt des Sektes die Limonade werbewirksam in den Pott gegossen wurde.
Einst hielten die Männer von Rotation, Chemie und Lokomotive zu DDR-Zeiten ihre Knochen hin. Ruhm und Ehre dem jeweiligen Verein. Mit Stolz und Wonne können sich die Leipziger Fußballfreunde in den Wälzern „Steigt ein Fahnenwald empor“ und „125 Jahre vom VfB zum 1. FC Lokomotive Leipzig“ vertiefen. Sandige Stufen und Regionalliga-Fußball sind in Probstheida und Leutzsch der Stand der Dinge. Neben RasenBallsport wird in der Messestadt in absehbarer kein weiterer Profiverein wirklich Platz finden. Zu wünschen wäre es aber, dass die Loksche eines Tages zumindest den Sprung in Liga 3 packt. Von mir aus auch die Chemie-Schweinchen aus dem Leutzscher Forst. Trotz aller Konflikte in der Vergangenheit - Euch tausendmal lieber als RB! Aber egal, man kann auch bei Rotation oder Roter Stern sein Bierchen schlürfen und hübsch fachsimpeln. Wenn auf dem grünen Rasen der Einsatz stimmt, kann auch ein Landesklasse-Duell durchaus für Freude sorgen. Man muss unsere Kinder nur ranführen und sie nicht gleich in die Arena karren und so tun, als sei dies der einzige relevante Fußball. Ich spreche da aus meiner eigenen Erfahrung.
Aber es ist schon klar. Red Bull schnuppert nach Lifestyle. Nach Glamour und Ruhm. Dementsprechend ist auch manch ein TikTok-Video aufbereitet. Allerdings ist diese TikTok-Glamour-Welt eben nicht die reale Welt. Die reale Welt ist rau, aber eben auch herzlich. Mit Schmerzen verbunden. Mit Freud und Leid. Lieber würde ich mit der blau-weiß-roten Kogge durch die 3. Liga oder die Regionalliga schippern und in ranzigen Stadien Zäune zum Innenraum entern, als mit einem Marketing-Produkt in einer surrealen Lifestyle-Welt brav und artig zu konsumieren und auf Zuruf „RB! RB!“ zu rufen. Lieber gehe ich zu Polonia in der Kreisklasse oder zu einem Amateurspiel im tiefsten Brandenburg, wo in Klosterfelde und Trebbin echter Fußball gelebt wird.
Ihr möget nun sagen, scheißegal, was dieser turus-Autor hier von Tradition faselt. Der ewig-gestrige Nostalgiker kann sich ja in Leutzsch die Kauleiste polieren oder in Probstheida ungemütlich anmachen lassen. Kein Problem, auch lieber das, als zu einem Produkt zu gehen. Wohl denn, doch eines Tages - und da bin ich mir sicher - kann RasenBallsport Leipzig Geschichte sein. Und das schneller, als man denkt. Anderer Standort - gleiches Modell. Das Ganze ist dermaßen austauschbar und hat mit dem Fußball, den wir alle lieben, rein gar nichts mehr zu tun. Und kommt mir nicht mit der Phrase, dass woanders ja auch massig Gelder verpulvert und große Unternehmen / Sponsoren Einfluss nehmen. Nach dem Hineingießen der Brause in den DFB-Pokal war alles gesagt. Alles gezeigt, worum es dort wirklich geht. Fußball allein zum Zweck, sich zu inszenieren und die Marke weiter zu festigen …
Fotos: Marco Bertram, Claude Rapp, Kamil Drass
Ligen
- 1. Bundesliga
- DFB-Pokal