Ein Tag nach dem DFB-Pokalfinale Hertha BSC II gegen TSV Bayer 04 Leverkusen, bei dem sich die Hertha-Bubis knapp mit 0:1 geschlagen geben mussten, folgte am Tag darauf das nächste unvergessene Highlight. Die Eisernen aus Berlin-Köpenick spielten in der Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga und hatten im heimischen Stadion An der Alten Försterei alles selbst in der Hand. Welch eine unvergessene Stimmung auf den Rängen - welch ein emotionaler Ausbruch bei den Fans nach dem 1:0-Sieg - die Freudentränen von Trainer Frank Pagelsdorf - die Sache mit der gefälschten Bankbürgschaft. Nach der großen Freude die krasse Ernüchterung. Von der verweigerten Lizenz erfuhr ich später im fernen Vancouver, als ich einen Blick in den Kicker warf. Folgend ein Kapitel aus meinem Buch "Zwischen den Welten", das im Herbst 2014 auf den Markt kam. Und ja, heute darf es etwas mehr sein. Das Nordamerika-Kapitel samt der Kicker-Episode gibt es gleich dazu. Viel Spaß beim Lesen!
Vor 30 Jahren: Union Berlin - Aufstieg, Bankbürgschaft, Erwachen in Vancouver
Auf dem Programm stand das mit Spannung erwartete Duell 1. FC Union Berlin gegen Bischofswerdaer FV. Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga. In der Gruppe Nordost nahm neben Union Berlin und Bischofswerda (für den Staffelmeister FC Sachsen Leipzig, der keine Lizenz bekommen würde, am Start) das Team von Tennis Borussia Berlin teil. Die Eisernen ließen sportlich nichts anbrennen, beim letzten Spiel gegen Bischofswerda würde ein Unentschieden genügen, um den Aufstieg in trockene Tücher zu bringen.
Die Eintrittskarten hatte ich bereits im Vorfeld besorgt, es war klar, dass das Stadion An der Alten Försterei mit rund 17.000 Zuschauern ausverkauft sein würde. Bei anhaltendem Schmuddelwetter stellten wir uns auf der Waldseite auf die alten Stufen direkt hinter das Tor. Sogar ein paar ältere Hertha-Fans mit Kutte, Schal und zum Teil sogar mit Gesichtsbemalung drückten den Köpenickern die Daumen. Damals wurde noch die vor dem Mauerfall entstandene Freundschaft zwischen Hertha und Union gepflegt. Zudem hätten sich nicht wenige Berliner die im Fall des Aufstieges anstehenden Lokalderbys in der 2. Bundesliga gewünscht.
Windböen peitschten den Regen über die Ränge und ließen die mitgebrachten Schirme zerfleddern. Kein Wunder also, dass „nur“ 15.000 Zuschauer den Weg ins komplett unüberdachte Stadion gefunden hatten. Egal, der bereits greifbare, so sehr herbeigesehnte Aufstieg in die zweite Liga ließ die Herzen der Fans erwärmen und die extrem miese Witterung vergessen. Auf dem nassen Rasen konnte sich kein hochklassiges Spiel entfalten, doch dafür war die eine oder andere Grätsche zu sehen. Nachdem es torlos zum an jenem Tage wirklich bitter nötigen heißen Pausentee ging, sollte im zweiten Spielabschnitt endlich das erlösende Tor her. Union-Trainer Pagelsdorf gab die notwendigen Anweisungen und in der Tat wurde der Druck auf das Gästegehäuse stetig erhöht. Zwar hätte auch ein 0:0 gereicht, doch darauf wollte man sich nicht verlassen. Ein dummer Elfmeter für Bischofswerda in den letzten Minuten und alles wäre im Eimer.
In der 67. Minute die Erlösung. Union ließ den Ball über den gesamten Platz laufen, passte anschließend in die Spitze, wo Jens Henschel das Spielgerät annahm, den Gästekeeper umkurvte und anschließend von schräg rechts zum 1:0 einlochte. Was für ein Jubel auf den Rängen! Tränen. Kollektives Umarmen. Direkt neben uns entkorkten alte Unioner ihre mitgebrachten Sektflaschen. Hunderte Kassen- und Klorollen landeten auf dem Rasen, der Schiedsrichter musste die Partie kurz unterbrechen und drohte sogar mit einem Spielabbruch.
Pagelsdorf lief über den Platz und versuchte die Fans, die vor Freude außer Rand und Band waren, zu beruhigen. Das Spiel konnte fortgesetzt werden, kurz vor Schluss detonierten allerdings ausversehen zuvor installierte Böller. Noch vor Ablaufen der regulären Spielzeit pfiff der Schiedsrichter schließlich das Spiel ab, für Bischofswerda ging es ja um nichts mehr. Der Rasen wurde von den Fans geentert und wieder flossen etliche Freudentränen. Manch einer schlug Purzelbäume, andere schrien ihr Glück in Richtung Himmel.
„Saufen, feiern und dann Urlaub!“, brachte es Goran Markov (Spieler der Eisernen) im Fernsehen auf den Punkt. Gesagt, getan. Auf einer Wiese startete nach dem Spiel die große Aufstiegsparty. „Dass ich das noch erleben durfte“, seufzte ein Union-Fan. „All die erlittenen Leiden waren doch nicht umsonst. Ach Mensch, das ist so geil!“ Bei 3.000 Litern Freibier feierten die Unioner mit dem Trainer und den Spielern den Aufstieg und ahnten an jenem Abend noch nicht, dass der Traum nur wenige Tage später platzen würde.
Die gefälschte Bürgschaft. Ein Begriff der sich bei mir – und natürlich bei all den Anhängern des 1. FC Union Berlin – einbrennen würde. Der Verein war klamm und benötigte für die Zweitligasaison 1993/94 eine Bürgschaft. Diese wurde dem DFB auch vorgelegt. Dumm nur, dass diese gefälscht war. Ebenso dumm gelaufen war, dass wohl ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem Umfeld des Vereins ausgerechnet dem TeBe-Präsidenten die Sache mitgeteilt hatte. Dieser fackelte nicht lange und rief kurzerhand beim DFB an. Eine Story wie aus einem Krimi. Völlig surreal. Ich ahnte damals nicht, dass wegen solch einem gefälschten Wisch der sportliche Aufstieg zunichte gemacht werden könnte. Besser gesagt, ich wollte es einfach nicht wahr haben. Die Sache war noch in der Schwebe, als ich mit Jan nach New York flog, um dort unsere vierwöchige Sommerreise zu starten.
Tour durch Nordamerika - der Kicker in Vancouver
Nicht nur der 1. FC Union Berlin hatte zu jener Zeit gewisse finanzielle Schwierigkeiten. Auch bei mir war die Kasse leer. Trotzdem sollte es wie geplant in die USA und nach Kanada gehen. Der Flug war ja längst gebucht, die Tickets für die Greyhoundbusse waren gekauft. Es gab kein Zurück mehr. Ich rannte durch die Kölner Innenstadt und zog mit meiner Karte an diversen ausländischen Bankautomaten einen Batzen Geld und überzog das Konto weit über das Limit. Zudem borgte ich mir eine weitere Stange Geld bei einem guten Freund. Mir war klar, dass sich nach meiner Rückkehr in Leverkusen die Mahnungen der Sparkasse stapeln würden. Scheiß drauf! Nach mir die Sintflut!
Auf nach Nordamerika, die Rocky Mountains als großes Ziel vor Augen. Die vierwöchige Tour durch Nordamerika eignete sich ideal, um einmal Abstand sowohl von der Ausbildung in Leverkusen als auch vom Fußball zu bekommen. Mit dem Flieger ging es von Berlin-Tegel über London nach New York, wo Jan (nicht zu verwechseln mit dem Fußballkumpel aus Frankfurt/Oder) und ich ein paar Tage verweilten. Im in der 63. Straße von Manhattan gelegenen YMCA nahmen wir uns ein Zimmer und starteten von dort aus unsere Tagestouren nach Brooklyn, Queens und in die Bronx. Es würde sicherlich den Rahmen dieses eh schon prall gefüllten Buches sprengen, wenn ich auf die spannenden Details dieser vierwöchigen Reise genauer eingehen würde, doch ein paar Anekdoten müssen ganz einfach kurz angerissen werden.
Stets auf das Bauchgefühl hörend marschierten wir bei bestem Sommerwetter durch die heruntergekommenen Straßen der Bronx und suchten in Brooklyn die Straße, welche im Film „Es war einmal in Amerika“ eine wichtige Rolle gespielt hatte. Ja, genau die Straße, welche auf dem Filmplakat abgebildet ist. Im Hintergrund die stählerne Manhattan Bridge. Laut Stadtplan müsste es die Washington Street sein. Im Sommer 1993 war die dortige Gegend noch arg heruntergekommen und ein asiatischer Anwohner riet uns dringend davon ab, dort zwischen den alten Lagerhäusern spazieren zu gehen. 21 Jahre später ist dieses Areal kaum noch wiederzuerkennen.
Das heutige New York ist mit dem der frühen 90er kaum vergleichbar. Allein Haarlem! Damals noch ein echter Härtefall wie es im Buche steht! Jan und ich hatten nichts besseres zu tun, als auch dort eine Runde durch abgewrackte Stadtquartiere zu drehen. Filmreif erhoben sich hinter uns die farbigen Jugendlichen von den kleinen Treppen der Wohnhäuser und riefen uns hinterher. Krasser noch die Bronx! An einem Nachmittag machte ich allein einen Ausflug durch die derbsten Viertel von New York und landete prompt in einer Sackgasse. Als ich umkehrte, rannte mir ein Polizist entgegen, der von einer aufgebrachten Meute Jugendlicher gejagt wurde. Ich verdrückte mich rasch in eine seitliche Gasse und hörte schon bald die heransausenden Streifenwagen. Dass wir diese Reise heil und ohne größere Verluste überstanden hatten, grenzt an ein Wunder.
Und es kam noch besser! Mit Greyhound-Linienbussen fuhren wir zuerst nach Montreal, wo wir in einem Park direkt am Wasser in netter Gesellschaft von Skunks nächtigten, und anschließend nach Toronto, wo ich mein erstes Baseball-Spiel sehen durfte. Im damals wirklich utopisch wirkenden SkyDome (ab 2005 Rogers Centre), direkt daneben der ebenso imposante 553 Meter hohe CN Tower, schauten Jan und ich uns die Partie Toronto Blue Jays gegen Kansas City Royals an. Inmitten des Cola trinkenden und Popcorn futternden Publikums bekam ich einen Einblick, was es heißt, wenn Sport zu reinem Entertainment wird. So sehr diese Sportstätte mich auch beeindruckt hatte, von dieser Art von Sportveranstaltung hatte ich bereits nach drei Stunden für immer und ewig genug!
Über Thunderbay, Winnipeg und Calgary ging es für uns weiter nach Banff im kanadischen Bundesstaat Alberta, von wo aus Jan und ich wie geplant eine einwöchige Wanderung durch die Wildnis der Rocky Mountains starteten. Im Rucksack: Nur das Nötigste. Ein Zelt, Schlafsäcke, Isomatten, paar Wechselklamotten, ein Blechtopf zum Abkochen des Wassers sowie recht knapp bemessene Nahrungsvorräte. Anders als angenommen gab es am 30 Kilometer von Banff entfernten Rastplatz Cr6 keinen Verpflegungsstützpunkt mehr, sondern nur noch eine Feuerstelle. Mehr nicht. Umkehren wollten wir nicht mehr, die Wildnis rief. Ein Brot, eine harte Wurst, zwei Büchsen Bohnen, eine Flasche Whisky und Kaffee – dies war der Vorrat für die kommenden sechs Tage. Mit recht spartanischem Kartenmaterial schlugen wir uns durch die Berge, Lake Louise sollte unser Ziel sein. Auf dem Weg dorthin wollten wir einen östlichen Schlenker durch das sogenannte „Grizzly Area“ machen, entschieden uns jedoch nach drei Tagen bergauf und bergab für eine etwas leichtere, kürzere Variante.
Gut so, denn in diesem schwer zugänglichen Grizzly-Gebiet hätte sich wohl unsere Spur verloren. Die Bergpfade waren so schon anstrengend genug, und während der einwöchigen Tour hatten wir gerade mal vier Leute getroffen. Einen Japaner, der mit riesigem Rucksack allein auf Achse war, sowie eine Dreier-Truppe, die von einem Native aus Arizona angeführt wurde. Jan und ich waren mit Sicherheit überdurchschnittlich fit, doch die Strapazen dieser Tour machten uns echt zu schaffen. Nach fünf Tagen nur Brot, Wurst und Wasser – zwischendurch einmal die baked beans – waren wir fix und fertig. Vor 21 Jahren waren wir nicht mit ultraleichtem Equipment und angenehmer, atmungsaktiver Fleece-Kleidung unterwegs, sondern mit eher spartanischem Zelt und recht einfachen Klamotten. Eine feste Lederjacke, Baumwollhemden, bequeme Jeans, ziemlich schwere Lederstiefel.
Wenn es in meinem Leben jemals einen Moment gab, an dem ich wirklich ohne zu übertreiben an meine körperlichen Grenzen stieß, dann war es diese Woche in den Rocky Mountains. Sämtliche späteren Wanderungen und Klettertouren waren im Vergleich, wenn gleich auch diese durchaus knackig waren, eher ein Klacks. Am Abend des sechsten Tages ging bei mir gar nichts mehr. Der Hunger war riesig, der Körper war völlig ausgelaugt. Ich lag im Nieselregen auf dem Gras und konnte nicht mehr. Mit letzter Kraft kroch ich ins Zelt, die feuchten Klamotten ließ ich einfach an. Am nächsten Tag rissen wir uns noch mal zusammen und erreichten mit glühenden Füßen eine Bergstation in der Nähe von Lake Louise. Von dort aus fuhren wir mit einem Bus hinunter, mieteten uns ein Plätzchen auf einem idyllischen Campingplatz und gingen erst einmal richtig einkaufen, um leckere Nudeln mit allem Drum und Dran zu kochen. Für die 800 Meter vom kleinen Lebensmittelgeschäft bis zum Zeltplatz benötigten wir sage und schreibe eine Dreiviertelstunde. Nichts ging mehr. Knie und Füße konnten nicht mehr.
Nach drei Tagen Erholung konnten die Gelenke wieder halbwegs bewegt werden und einer Weiterfahrt nach Vancouver und Seattle stand nichts mehr im Wege. In Vancouver nutzte ich die Gelegenheit eine aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Kicker zu kaufen. Die Spielpläne für die 1. und 2. Bundesliga waren bereits fertig. Gespannt blätterte ich durch das Heft. Groß war die Enttäuschung, als ich den ersten Spieltag der Saison 1993/94 sah. 27. Juli 1993. Tennis Borussia Berlin gegen 1. FSV Mainz 05. Tatsächlich hatte der 1. FC Union Berlin keine Zweitligalizenz erhalten. Klar war das aufgrund der gefälschten Bürgschaft abzusehen, doch hatte ich gehofft, dass nach meinem Abflug in Richtung Nordamerika doch noch eine Wende eingetreten wäre. Vielleicht war alles nur ein böser Irrtum, der aufgeklärt werden konnte. Doch ein giftige Intrige von den Charlottenburger Seilschaften. TeBe traute man zu jener Zeit einiges zu.
Immer wieder blätterte ich durch den Kicker und las die entsprechenden Artikel. Es half nichts. Ich fand keine entsprechende Stelle, in der stand, dass der Spielplan eventuell von vorläufiger Natur sei. Ich packte die Zeitschrift weg und verdrängte wieder den Fußball – und das mit Erfolg. Mit Greyhound ging es nach Seattle und von dort aus wieder zurück durch ganz Nordamerika in Richtung Ostküste. Zum Abschluss der Reise blieben uns noch zwei Tage in New York. Da wir jedoch nicht mehr genügend Geld hatten, mussten wir die letzte Nacht vor Abflug irgendwie so über die Runden bringen. Für ein Bett in einer Herberge hatte es einfach nicht mehr gereicht. Wir schlossen unsere Rucksäcke am Busbahnhof in zwei Schließfächer ein und beschlossen, die Nacht auf dem Time Square zu verbringen. Dort dürfte es relativ leicht sein, die Zeit rumzukriegen. Groß war der Schock, als dort gegen ein Uhr nachts die riesigen Werbebeleuchtungen ausgingen. Der Platz wurde nun ein Hort von Betrunkenen, Junkies und diversen finsteren Gestalten. Die Flaschen flogen, irgendwelche Kerle keilten sich mitten auf der Straße, selbst der dortige Mc Donald´s schloss aus Sicherheitsgründen für drei Stunden die Pforten. Prima! Und wohin nun?
Nach kurzen Überlegungen der Entschluss: Auf zum Central Park und dort ablegen! Inmitten zahlreicher Obdachloser packten wir uns dort auf eine Wiese und machten die Augen zu. Die Nacht war trocken und nicht allzu kalt. Zwischen all den unter Decken und Zeitungen schlafenden Typen fielen wir nicht weiter auf. Wer würde schon kommen und versuchen, mittellose Obdachlose auszurauben? Gegen sechs Uhr morgens die Überraschung schlechthin. Wachleute durchstreiften den Central Park und weckten all die Schlafenden. „Wake up! Get up! It´s time to get up!“ Rings um uns herum rekelte es sich und auch wir streckten die müden Beine aus und suchten paar Minuten später das erstbeste Café auf, um vom übriggebliebenen Kleingeld eine Lebensgeister weckende schwarze Brühe zu kaufen. 12 Stunden später saßen Jan und ich im United Airlines Flieger, der uns zurück nach Europa brachte ...
Anmerkung: Das Buch "Zwischen den Welten" mit vielen Anekdoten aus den 90ern ist mit Widmung beim Autor erhältlich: www.marco-bertram.de
Fotos: Marco Bertram
- Alte Försterei