Am Anstand. Bergfelde weit vor den Toren Berlins. Direkt an der Waldkante. Dort wohnte ich kurzzeitig über den Sommer 1997 auf einem Wochenendgrundstück bei einer Kumpeline und ihrem Schäferhund. Joggen gehen in den Wäldern, an meinem ersten Laptop ein Manuskript über eine Brasilien-Reise schreiben, abends mit der besagte Kumpeline einen Rosenthaler Kadarka trinken - so gestalte sich der eine oder andere Tag. Lief Fußball im Fernsehen, zog ich mich in den Anbau, in welchem sich mein schlichtes Zimmer befand, zurück. Der Anbau hatte einen separaten Eingang. Zum Strieseln in der Nacht musste man im Garten an die Hecke gehen oder einmal ums Haus zum Haupteingang tapsen. Der Sommer war herrlich. Was mit argem Liebeskummer im Frühjahr begann (im hohen Norden ließ ich eine zerflossene Liebe zurück) mündete dann in der warmen Jahreszeit mit sonnigen Nachmittagen im Garten und dem süßlichen Rotwein am Abend. Dann kam der Herbst und die Nächte wurden kühler. Im Anbau, der nicht beheizbar war, wurde es langsam aber sicher ziemlich klamm. Noch eine Decke mehr aufs Bett, abends nicht großartig in dem Raum aufgehalten. Ein weiterer Umzug stand bevor. Wohin - das wusste ich noch nicht. Sicherlich zurück in die große bunte Stadt. Ich war auf der Suche und saß im Anbau quasi auf gepackten Koffern. Der Fernseher von Blaupunkt, im Frühjahr 1994 in Leverkusen vom ersten Gehalt als Elektroniker gekauft, war noch angestöpselt. Am Abend des 30. November 1997 wurde die Partie Bayer 04 Leverkusen vs. FC Bayern München live übertragen. Ich schlurfte um das Haus und machte es mir im Anbau bequem. Von der kühlen Luft würde ich wenig später nicht viel bemerken, denn das Spiel wurde hitzig - und die Hitze übertrug sich vom Ulrich-Haberland-Stadion 1:1 nach Bergfelde.
(Fast) intensiver als ein Orgasmus: Als Kirsten im Herbst 1997 in der Nachspielzeit den Bayern zwei einschenkte
Kiste an! Sport frei! Von 1991 bis 1994 hatte ich in Leverkusen meine Ausbildung gemacht. Nach dem Mauerfall zog nicht nur ein Andi Thom von Ost-Berlin an den Rhein. Auch ich erhielt völlig aus der Kalten das Angebot meine bei den Fotochemischen Werken (ORWO) begonnene Ausbildung beim Chemie-Giganten am Rhein fortzusetzen. Neue Freunde fanden sich schnell, und was den Fußball betraf, so bekam ich im tiefen Westen die volle Palette vorgesetzt. Drei Tage nach Ankunft besuchte ich das erste Spiel und fand mich bei der DFB-Pokalpartie Bayer 04 Leverkusen vs. 1. FC Köln im Gästebereich (Block A) wieder. Mit frisch gekauftem Schal von Bayer 04. Support your local team - das stand für mich außer Frage. Würde ich in Leverkusen wohnen und arbeiten, so würde ich auch die Spiele der Werkself besuchen. Nach dem Pokalspiel gegen Köln, als die Wurstbude am H-Block brannte, musste ich auf dem Stadtring laufen gehen, nachdem ein paar Kölner an einer Tankstelle meinen Bayer-Schal erspäht hatten. Als gut trainierter Leichtathlet hatte ich eine flotte Sohle. Glücklicherweise musste ich die kommenden Jahre nicht mehr allzu häufig flitzen gehen.
Nach dem ersten Jahr, in dem ich mit Kumpels daheim und auswärts fast alles mit Bayer 04 mitgenommen hatten, folgten zwei Jahre, in denen ich den Horizont erweiterte und so ziemlich alles mitnahm, was sich anbot. Fakt ist jedoch, dass mich als 18-jähriger die erste Zeit in Leverkusen sehr geprägt hatte. Als Ost-Berliner, der vorher nicht allzu viel mit Fußball am Hut hatte, durfte ich in Leverkusen auf Anhieb von Null auf Hundert voll dabei sein. Sicherlich gab es im C-Block anfangs auch kritische Blicke (was wohl auch am merkwürdigen Kleidungsstil lag), doch auswärts war man voll dabei und stand mit im Kern. Nach der Rückkehr nach Berlin im Sommer 1994 kühlte sich das Verhältnis stetig ab - der Nordostfußball rückte nun voll in den Fokus -, doch in der Zeitung, auf Videotext und bei Spielzusammenfassungen schaute ich regelmäßig, was Bayer 04 so trieb. Zumal damals die 1. Bundesliga und der Europapokal für mich noch einen ganz anderen Stellenwert hatten. Von Übersättigung war noch nichts zu spüren, wenn gleich gewisse Entwicklungen kritisch betrachtet wurden.
Ein Spiel gegen den deutschen Rekordmeister? Das hatte vor 20 Jahren wirklich seinen Reiz, zumal der FC Bayern München so tolle Spieler hatte, an denen man sich reiben konnte. Oliver Kahn, Lothar Matthäus, Giovane Élber, Carsten Jancker. Oh la la, mir schwoll die Halsschlagader, wenn ich diese Kerle auf dem Bildschirm sah. Fehlte nur noch Stefan Effenberg, aber der war im November 1997 nicht dabei. Wo er war? Effe spielte von 1994 bis 1998 bei Borussia Mönchengladbach und kehrte erst dann an die Isar zurück. Und bei Bayer 04? Eine Menge sympathischer Spieler! Ulf Kirsten? Müssen wir wohl nicht drüber diskutieren! Stefan „Paule“ Beinlich? Aber bitte, sympathischer geht es ja kaum! Erik Meijer? Ein dufter Typ! Emerson? Den musste man auch mögen! Robert und Niko Kovac? Schon immer zwei feine, charismatische Kerle! Der Trainer Christoph Daum? Hüstel. Na kommt, der war damals Mitte der 90er auch okay. Und die Bayern? Hatten ihren Giovanni Trapattoni. Also an ihm lag es nicht, dass ich die Bayern abgrundtief hasste. Zur Erklärung: In der Gegenwart erwärmt mich die 1. Bundesliga generell nicht mehr allzu sehr. Also ist von Sympathie, Aufregung und Hass nicht mehr allzu viel zu spüren. Um mit dem Fußballoberhaus noch einmal richtig warm zu werden, müssten ein paar Ost-Vertreter - der F.C. Hansa Rostock voran - aufsteigen und das Ganze mal richtig aufmischen.
Zurück zum damaligen Spiel. Bei einem Fläschchen Bier sah ich um 19:45 Uhr - es war ein Sonntagabend - die beiden Mannschaften auflaufen. Leverkusen in Rot, München in Weiß. Was ich anfangs zu sehen bekam, erfreute mich nicht wirklich. Mehmet Scholl wirbelte auf der rechten Seite, brachte den Ball herein, und Élber setzte zum Kopfball an. 1:0 für den FC Bayern in der sechsten Minute. Meine Fresse! Na ja, das wird aber schon! Aber dann kam es richtig dicke. Lang wurde der Ball nach vorn hereingebracht, Carsten Jancker machte nach Vorarbeit von Michael Tarnat in der 24. Spielminute den zweiten Treffer der Gäste klar. Jancker, ausgerechnet Jancker! Boah, ich musste …! In der Magengegend rumorte es. Hitzewallung vom Feinsten. Bereits jetzt hätte ich diesen blöden Fernseher umwerfen können. Verdammte Scheiße! Immer diese Bayern!
Und es kam ja noch „besser“! In der 33. Minute flog Christian Wörns - nicht gerade mein Lieblingsspieler - mit glatt Rot vom Platz. In Bergfelde ging nun am Anstand im Anbau die Post ab. Das kann nicht wahr sein. Wie blöd kann man sein?! 0:2 in Unterzahl?! Das war´s dann wohl! Frustriert schaltete ich den Fernseher aus. Ich konnte nicht mehr. Zu schlimm waren die Qualen. Und wenn es doch noch einen Anschlusstreffer gibt? Ich schaltete um und legte den transparenten Videotext aufs Bild. In der 45. Minute flackerte es. 1:2 für Leverkusen. Heiliger Bimmbamm! Ratzfatz zurück zur Übertragung. Gerade noch rechtzeitig konnte ich die Wiederholung sehen. Von der Strafraumgrenze brachte Jan Heintze den Ball rechts unten unter. Vom Innenpfosten prallte die Kugel in die Maschen. Da konnte selbst Kahn nix machen. Gut so!
Nun blieb ich doch wieder live dabei. Hoffnung geschöpft. Ein Remis wäre ja schon recht hübsch. Und dann in der Tat: Ausgleich in der 69. Minute! Nach Hereingabe von Stefan Beinlich köpfte Ulf Kirsten den Ball kraftvoll unter die Latte! Wie machte der „Schwatte“ das immer nur?! 2:2. Jubel im Ulrich-Haberland-Stadion. Jubel im Anbau. Fauste ballen. Jawohl! Minute für Minute ging vorüber. 88. Minute. 89. Minute. Noch immer stand es 2:2. Das Unentschieden schien sicher. Ich war zufrieden. Das in Unterzahl nach 0:2-Rückstand? Alles paletti!
Und dann kam die 90. Spielminute. Was dann geschah, war einfach unfassbar. Diesen Treffer zähle ich zu meinen persönlichen Top 5 der vergangenen 27 Jahre. Dieser Treffer befindet sich in guter Gesellschaft. Das legendäre 4:3 der Eisbären bei den verhassten Preussen am 11. November 1995, der Rostocker Ausgleich gegen Eintracht Frankfurt im Berliner Olympiastadion am 28. Oktober 1995, der Ausgleich des BFC Dynamo im Berliner Pokal in der 90. Minute gegen den Berliner AK 07 an einem kühlen Märzabend 2011, die Tore des Celtic FC beim VfB Stuttgart im Frühjahr 2003. Das 3:2 von Ulf Kirsten gegen die Bayern in der 90. Minute ist das einzige Tor meiner Top 5, das ich nur am Bildschirm gesehen hatte. Und das war völlig egal. Das Gefühl war unbeschreiblich! Hans-Peter Lehnhoff hatte den Ball hereingebracht, von einem Bayern-Spieler wurde er mit dem Kopf verlängert, und dann machte der Ulf die Bude mit dem Köpfchen klar. Als Aufsetzer fand die Kugel unten rechts das Ziel.
Alarm in Bergfelde! Ich rastete komplett aus. Ich warf mich auf die Knie und trommelte vor Freude auf den kalten Fußboden. Ich brüllte, ich jauchzte, ich beschimpfte die Bayern. Es musste raus. Alles raus! Ich vergaß den Liebeskummer vom Frühjahr, manch einen persönlichen Rückschlag. Ich drehte einfach frei. Mein lieber Herr Gesangsverein, es war wie der Fi** des Lebens. Ach herrje, dass kann man wohl im Netz nicht einfach so ausschreiben. Aber so war es nun mal, liebe Sportsfreunde. Und gerade zum Orgasmus gekommen, folgte gleich der nächste Höhepunkt. Sicher ist sicher! Noch ein Schuss! In der Nachspielzeit wurde Ulf Kirsten nach vorn geschickt. Die Bayern hatten hinten öffnen müssen. Allein auf Keeper Kahn lief der „Schwatte“ zu und versenkte routiniert unten rechts den Ball. 4:2! Mein Kopf drohte zu platzen. Wieder trommelte ich wie ein Irrer mit den Fäusten auf den Boden.
„Marco, ist alles in Ordnung?“ Meine Mitbewohnerin stand in der Tür. „Das hörte sich wirklich schlimm an. Ist was passiert?“ Sie hatte mit dem Allerschlimmsten gerechnet. Oh nein, alles in Ordnung. Mir ging nur gerade einer mächtig ab. Stell schon mal den Kadarka kalt! ;-)
Fotos: Marco Bertram